Es gibt kein »Gutes Leben« ohne Beteiligung

Guillermo Churuchumbi über das von Erdbeben erschütterte Ecuador, die Anwendung indigener Prinzipien in der realen Politik in den Zeiten des Kapitalismus und die Utopie von »Buen Vivir«

  • Lesedauer: 9 Min.

Ecuador bebt. Seit dem schweren Erdbeben im April gab es bis zuletzt viele Nachbeben. Sie sind Bürgermeister im Kanton (in etwa Landkreis, d. Red.) Cayambe. Inwiefern ist Ihre Region betroffen?
Die Erdbeben haben das ganze Volk getroffen - die einen direkt, die anderen indirekt. Wenn wir über Cayambe sprechen: Hier leben viele Menschen, deren Familien ursprünglich von der Küste im Nordwesten stammen, wo das Epizentrum lag. Die meisten sind auf der Suche nach Arbeit wegen der Blumenplantagen nach Cayambe gekommen. Viele Familien haben nun Verwandte aus der betroffenen Provinz aufgenommen, die kein Obdach mehr haben, müssen sie mitversorgen. Wir haben mehrere Solidaritätskampagnen organisiert, um Lebensmittel, Wasser, Kleidung zu beschaffen und gemeinsame Mittagessen zu veranstalten. Das alles unter Beteiligung der Bewohner und der kommunalen Behörden. Wir bemühen uns, die Hilfe direkt dort ankommen zu lassen, wo sie die Menschen benötigen.

An Solidarität fehlt es nicht?
Nein. Es gab und gibt sehr viel Solidarität. Leider haben wir nicht alle Orte erreicht, die Hilfe benötigen könnten, weil sie zu weit entfernt und zu schwer erreichbar sind. So sind manche Betroffenen zu kurz gekommen. Dessen ungeachtet praktizieren wir in Cayambe weiterhin gelebte Solidarität mit einigen der betroffenen Gemeinden in der nördlichen Küstenprovinz Esmeraldas.

Zur Person

Guillermo Churuchumbi gehört zum linken Flügel der indigenen Partei Pachakutik. Er gewann 2014 die Bürgermeisterwahl und regiert seither als erster Indigener den Kanton Cayambe mit 120 000 EinwohnerInnen. Auf Vermittlung der Rosa-Luxemburg-Stiftung besuchte er im September Deutschland zum kommunalpolitischen Austausch. Über die Mühen der Realpolitik sprach mit Churuchumbi für »nd« Martin Ling.

Das Erdbeben mit über 650 Toten vom April ist bald ein halbes Jahr her. Ist der Wiederaufbau im Gang?
An einigen Stellen, an anderen Stellen noch nicht. Es gibt ja auch nach wie vor Nachbeben, einschließlich in der Hauptstadt Quito. Wie lange das noch andauert, ist ungewiss. Aber was wir sagen können, ist, dass betroffene Familien bereits Pläne für den Wiederaufbau gemacht haben. Was es nun braucht, ist, dass auf allen Ebenen dafür gearbeitet wird, dass die Menschen sich selbst organisieren, um ihre Bedürfnisse anzupacken - selbstverständlich bedarf es der staatlichen Unterstützung. Der Staat muss für die wirtschaftliche Wiederbelebung sorgen, beim Tourismus, bei der Landwirtschaft und beim Prozess der Vermarktung. Wenn diese Sektoren wieder in Schwung kommen, entstehen auch Einkommen für die Familien. Wir müssen gemeinsam den Wiederaufbau und die Wiederbelebung der Wirtschaft vorantreiben. Die Häuser, die Schulen, die zerstörte Infrastruktur muss neu aufgebaut werden. Da setzen unsere Solidaritätskampagnen aus Cayambe an. Unser Schwerpunkt liegt dabei auf der Region Cabo San Francisco (Muisne) in Esmeraldas.

Es ist eine große Herausforderung für das ganze Land?
Genau. Für alle. Für die Bürgermeister wie mich, ob nun direkt betroffen oder nicht, allein wegen unserer Verantwortung und den sozialen Beziehungen, die wir zwischen den Regionen haben. Insgesamt ist es eine gemeinsame Verantwortung von allen für alles. Das geht bei der Zentralregierung los, die Steuern und Sonderabgaben auf den Weg gebracht hat, um Gelder für den Wiederaufbau zu generieren. So leisten alle Ecuadorianer ihren Beitrag für den Wiederaufbau der Küste im Norden.

Stimmt es, dass Sie seit 2014 der erste Bürgermeister in Ecuador mit indigenem Hintergrund sind?
Auf kantonaler Ebene, ja. Seit vor 180 Jahren Ecuador in Kantone strukturiert wurde, bin ich der erste indigene Bürgermeister eines solchen Kantons. Im Kanton leben 120 000 Menschen, die Hälfte davon sind Indígenas, die andere nicht. Es gibt eine kulturelle Vielfalt, nicht nur die indigene Kultur. Für mich und die indigene Partei Pachakutik bedeutet das eine Herausforderung.

Wie kam es zum Wahlsieg?
Wir haben 2014 die Wahlen gewonnen, weil die Leute der Zustände überdrüssig waren: der Korruption, der Vetternwirtschaft, des Populismus’. Keiner konnte sich auf den öffentlichen Sektor verlassen. Öffentliche Politik muss doch heißen, die Menschen zu beteiligen, muss doch heißen, sich mit den Bürgern über ihre Forderungen abzustimmen. All das war leider keine Praxis in der Vergangenheit. Weil die Leute mit der traditionellen Politik nichts mehr anfangen konnten, waren sie offen für die neuen Ansätze und Ideen, die die indigene Partei Pachakutik einbringt, und für neue Personen.

Neue Personen wie Sie. Wie wurden Sie überhaupt Kandidat?
Ich wurde von sozialen Bewegungen auf den ersten Listenplatz von Pachakutik gewählt. Die sozialen Bewegungen haben entschieden, dass ich der Kandidat für das Bürgermeisteramt sein sollte. Das ist das Prinzip: Der Kandidat braucht die Unterstützung der sozialen Bewegungen, die politischen Ansätze den Rückhalt der Bevölkerung. Für den Sieg brauchten wir eine kollektive Kampagne, denn wir mussten uns auch der üblichen Praxis des Stimmenkaufs erwehren, wir mussten uns der traditionellen Parteien erwehren, die den Kanton immer in ihrer Hand hatten. Wir haben uns als Alternative präsentiert und damit gewonnen!

Worin besteht die Alternative?
In der Partizipation, wir beteiligen die Bürger am Entscheidungsprozess. Wir stehen im ständigen Dialog mit der Bevölkerung im Allgemeinen, mit den Stadtteilbewohnern im Konkreten, wenn es darum geht, Politik umzusetzen. Bei der Müllentsorgung, bei der Parkerneuerung, bei der Wasserversorgung. Hier geht es nicht darum, dass die Leute passiv darauf warten, dass der Staat alles für sie tut. Sie sollen in direkter Demokratie mitentscheiden, aber auch direkt mitgestalten und dabei mit Hand anlegen, sodass Stadtverwaltung und Bürger wirklich zusammenarbeiten.

Und funktioniert das?
Ja. Das Problem der Wasserqualität war über viele Jahre ungelöst: In weniger als zwei Jahren haben wir es geschafft, die Wasserversorgung nicht nur für die großen Blumenproduzenten in der Stadt Cayambe, sondern auch für die indigenen Gemeinden der Umgebung zu sichern und das mit qualitativ gutem Wasser.

Auch den Kampf gegen die Korruption haben wir angepackt, sowohl im Transportwesen als auch bei den sozialen Programmen. Dort setzen wir auf einen Prozess der transparenten Beteiligung. Das gibt uns eine Garantie, dass wir ein nachhaltiges Regieren schaffen, und das bedeutet, dass wir eine partizipative Demokratie entwickeln mit den Menschen, von den Menschen, für die Menschen.

Das partizipative Element entspricht ja auch dem »Buen Vivir« oder »Sumak Kawsay«, dem »Konzept vom Guten Leben«, wie es seit 2008 auch in der Verfassung Ecuadors festgehalten ist. Wo liegen die Schwierigkeiten, dieses Konzept in Realpolitik zu überführen?
Vorab muss festgehalten werden, dass es sich bei »Buen Vivir« oder »Sumak Kawsay« auch um eine Utopie handelt, einen Traum, wie der Mensch in Fülle und Harmonie mit Mutter Natur zusammenlebt. Aber davon abgesehen geht es darum, sich im Hier und Jetzt die Frage zu stellen, wie man jeden Tag das »Gute Leben« praktizieren kann. Gut zu leben bedeutet, mit sich selbst im Einklang zu leben, mit deiner Familie glücklich zusammenzuleben, mit deinen Nachbarn glücklich zusammenzuleben, deinen Freunden und Bekannten und sich zu überlegen, wie man in Harmonie mit der Natur leben kann. Wenn das in einer Gemeinde möglich ist, ist es im Prinzip auch in einem Land möglich, ist es auch geopolitisch möglich. Man kann in Deutschland das »Gute Leben« praktizieren.

»Buen Vivir« im Kapitalismus?
Leider ist der Kapitalismus in jede Ecke Deutschlands, aber auch Ecuadors vorgedrungen. Was bedeutet Kapitalismus? Konzentration des Reichtums, Armut von vielen Menschen, Ausbeutung der natürlichen Ressourcen zur Bereicherung weniger und nicht zur Umverteilung an viele. Das ist mit »Sumak Kawsay« unvereinbar. Beim »Sumak Kawsay« wird der Natur nur so viel entnommen, wie man zum »Guten Leben« benötigt, der Reichtum wird umverteilt zum Wohlbefinden der Menschen und der Natur. Das ist die ökonomische Ebene. Man darf nicht vergessen, dass der Kapitalismus bereits über 150 Jahre währt und sich nicht von heute auf morgen überwinden lässt. Aber klar: Es ist notwendig, den Kapitalismus zu überwinden, um den Weg für ein »Buen Vivir« frei zu machen. Mit dem Kapitalismus lässt sich der Klimaerwärmung nicht begegnen, mit dem Kapitalismus geht die Armut von vielen Millionen Kindern einher und ein paar wenige Familien haben unermessliche Reichtümer angesammelt. Das ist kein humanes System, das ist Barbarei. Wegen der Akkumulation der Reichtümer existieren Kriege.

In Ihrer Region Cayambe wird das »Sumak Kawsay« schon angewandt. Wie läuft das, wenn es in der Bevölkerung Gruppen gibt, die unter »Gutem Leben« eher den »American way of life« verstehen und vor allem ihre Konsumlust ausleben wollen?
Dieser Frage stellen wir uns praktisch. Ein Thema, an dem wir arbeiten, ist, wie wir das Gemeinschaftswesen zurückerlangen. Das gemeinschaftliche Wissen, die gemeinschaftlich betriebene Wasserversorgung, das gemeinschaftliche Nutzen von Brachflächen. Wir wollen auch eine gemeinschaftliche Ökonomie entwickeln, eine solidarische auf Gegenseitigkeit beruhende Wirtschaft. In kleinen Gemeinden funktioniert das schon. Was im Kleinen funktioniert, kann auch im Großen funktionieren. Wir arbeiten am Thema Minga: So heißt die besondere Form der Gemeinschaftsarbeit, die in Ecuador Tradition hat. In zwei Jahren haben wir es geschafft, dass diese Form auch in städtischen Vierteln praktiziert wird und nicht nur in den indigenen Gemeinden, wo sie herstammt. Auch in den Städten müssen die Menschen lernen, wie Selbstorganisation funktioniert.

Und die Leute sind mit Ihrer Regierungsführung zufrieden?
Bis zum jetzigen Zeitpunkt 70 Prozent. 15 Prozent aus der Opposition, die die Wahlen verloren hat, sind gegen uns, auch weil sie bis heute nicht verstehen, warum sie verloren haben.

Bei den nationalen Präsidentschaftswahlen 2017 tritt Präsident Rafael Correa nach zehn Jahren nicht mehr an. Wie ist seine Bilanz?
Die Regierung Correa hat Erfolge und Misserfolge vorzuweisen. Ich bin weder Correalista noch Opposition - die Opposition ist die Rechte. Wir von Pachakutik sind eine linke Alternative, kommen aus alternativen Bewegungen und schlagen Alternativen vor auf lokaler und nationaler Ebene. Correa hat den Staat modernisiert und gestärkt, auf der Strecke blieb die Partizipation. Die Regierung hört nicht auf die Bevölkerung, bezieht sie nicht mit ein und die Ureinwohner auch nicht. Die Regierung war sehr stark in den fetten Zeiten, aber in Zeiten der Wirtschaftskrise zeigt sie sich schwach, aber auch die sozialen Bewegungen zeigen da ihre Schwächen. Was auch immer die Wahlen 2017 bringen mögen, ob die Regierungspartei Alianza País gewinnt oder nicht: Wir haben eine Empfehlung an alle: Bezieht die Ureinwohner mit ein, gewinnt sie für die Gesellschaft, nutzt ihr Wissen und wendet »Sumak Kawsay« an, erklärt alles den Leuten, macht alles mit den Leuten und hört ihnen zu.

Deswegen halten wir es von Pachakutik für wichtig, mit einer eigenen Kandidatin anzutreten, das wird Lourdes Tibán sein, die die parteiinternen Vorwahlen im August deutlich gewonnen hat. Wir werden auch versuchen, Allianzen für eine Alternativregierung zu schmieden.

Wir hoffen, dass wir von Pachakutik bei den Wahlen 2017 mit unserem Alternativprojekt Anklang finden. Sonst droht Ecuador der rohe Neoliberalismus, so wie in Argentinien unter Mauricio Macri: Privatisierung der Bildung, Entlassungswelle bei den Beschäftigten, Preiserhöhungen bei Strom und Wasser. Oder was mit Dilma Rousseff in Brasilien passiert ist: Krise - und die Rechte ist zurück.

Wieviel Realitätsgehalt hat der Slogan »Bürgerrevolution«, den die Regierung Correa propagiert?
Er ist auf alle Fälle mehr Slogan als Wirklichkeit. Wie gesagt, es gab Erfolge, bedeutende Fortschritte in der Gesundheit, Bildung, Infrastruktur. Aber es fehlt die Partizipation. Der Staat ist engagiert, aber der Staat kann so stark sein, wie er will, ohne die Beteiligung der Bürger lässt sich kein »Buen Vivir« schaffen.

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