Armut wächst - Tafeln droht die Überlastung
Die Zahl der Bedürftigen wächst derzeit schneller als die Lebensmittelspenden, der Tafelchef fordert deshalb größere Anstrengungen von der Bundesregierung
Die Tafeln fangen einen Teil jener auf, die durch das weitmaschiger werdende soziale Netz fallen. Oder wie es das Kritische Aktionsbündnis »Armgespeist« ausdrückt: »Tafeln sind ein Symptom dafür, dass die sozialstaatlichen Leistungen den Bürgerinnen und Bürgern kein soziokulturelles Existenzminimum mehr sichern.« Deutlichstes Indiz dafür ist der wachsende Andrang von Menschen, die auf die Lebensmittelspenden angewiesen sind. Derzeit wächst die Zahl der Tafelnutzer schneller als die Menge der gespendeten Lebensmittel. »Trotz angestiegener Spendenmenge bekommt jeder Einzelne im Durchschnitt etwas weniger Lebensmittel«, sagte der Vorsitzende des Bundesverbands Deutsche Tafel, Jochen Brühl, am Dienstag in Berlin und stellte klar: Tafeln könnten keine Vollversorgung garantieren, »sondern nur Armutslinderung«.
Fast 1,8 Millionen Menschen besuchen regelmäßig einen der bundesweit 2100 Tafelläden und Ausgabestellen. Im Vergleich zu 2014 sei die Zahl der Tafelkunden um 18 Prozent gestiegen, so Brühl. Wie stark die Zahl der Bedürftigen zugenommen hat, zeigt auch der Langzeitvergleich: Im Jahre 2005 zählten die Tafeln noch 500 000 regelmäßige Besucher. Die in jenem Jahr lancierten Hartz-IV-Reformen haben zu einem Run auf die Tafeln geführt.
Die Menschen, die die Ausgabestellen aufsuchen, sind vor allem eines: arm. Hartz-IV-Bezieher, Niedriglöhner, Migranten, Rentner, kinderreiche Familien und neuerdings auch Geflüchtete. Rund 280 000 Flüchtlinge werden derzeit von den Tafeln mitversorgt.
Nicht immer lief das in der Vergangenheit problemlos. Wegen kultureller Unterschiede und Sprachproblemen habe es manchmal Anlaufschwierigkeiten gegeben, so Brühl. Syrische Männer etwa hätten Probleme damit gehabt, Hilfe von Frauen anzunehmen. Zudem seien bestimmte Lebensmittel für einige Gruppen ungeeignet. So verbieten die islamischen Speisevorschriften den Konsum von Schweinefleisch.
Auch hätten viele Tafeln ihren neuen Kunden deutlich machen müssen, dass Tafeln keine staatlichen Einrichtungen seien und sie deshalb auch keinen Anspruch auf Lebensmittel hätten. Tatsächlich finanzieren sich die Tafeln von »privaten und privatwirtschaftlichen Spenden«, wie es beim Bundesverband heißt. Das Prinzip dahinter ist einfach: Die größtenteils ehrenamtlichen Helfer holen Lebensmittel, die in den Supermärkten oder Restaurants nicht mehr verkauft werden können, mit ebenfalls gespendeten Fahrzeugen ab und bringen diese zu den Ausgabestellen. Dort werden sie kostenlos oder gegen einen symbolischen Betrag verteilt. Etwa 40 Prozent der Tafeln werden von eingetragenen Vereinen betrieben, der Rest sind Projekte in Trägerschaft gemeinnütziger Organisationen wie Caritas, Arbeiterwohlfahrt oder Volkssolidarität.
»Unser Problem sind nicht die Flüchtlinge, sondern es ist die Armut«, stellte Brühl klar. Die Flüchtlinge kämen ja wegen der »mangelhaften Versorgung« in den Unterkünften. Bei denen, die in Wohnungen untergebracht seien, reiche die staatliche Unterstützung oft nicht aus - wie auch bei Hartz-IV-Empfängern, unterstrich der Vize-Vorstandsvorsitzende Kai Noack. Die Konkurrenz zwischen Flüchtlingen und »Altkunden« sei in den Tafeln aber längst nicht so stark, wie oft behauptet, sagte Brühl. Er kritisierte die »Versuche von außen, einen Keil zwischen die Ärmsten in diesem Land zu treiben«.
Sein Vorstandskollege Brühl sekundierte: »Tafeln sind zu einem zentralen Motor der Integration geworden«. So seien in 40 Prozent aller Einrichtungen mittlerweile Geflüchtete als ehrenamtliche Helfer oder Bundesfreiwillige tätig. Insgesamt würden die Tafeln von 60 000 Helfern unterstützt, so der Vorsitzende.
Brühl wandte sich dann auch direkt an die Politik: »Verliert die Regierung die Ärmsten weiter aus dem Blickfeld, droht der gesellschaftliche Unfriede.« Zwar leisteten Tafeln niederschwellige Soforthilfe: »Unsere Angebote dürfen seitens der Politik jedoch nicht länger überstrapaziert werden«, warnte Brühl.
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