Wer paddelt, kommt weiter

Eine internationale Forschungsgruppe bietet eine neue Erklärung 
für widersprüchliche Datierungen bei der Besiedlung von Nord- und Südamerika.

  • Andreas Knudsen
  • Lesedauer: 6 Min.

Seit rund 100 Jahren gilt es als Lehrbuchweisheit, dass die Vorfahren derjenigen Menschengruppe, die heute pauschal als Indianer bezeichnet wird, aus dem nordöstlichen Asien kamen und im Laufe der Zeit bis zur Südspitze des Doppelkontinentes wanderten. Auch über den Zeitpunkt war man sich einigermaßen einig. Danach begann alles zum Ende der letzten Eiszeit vor etwa 12 000 Jahren, als sich ein Korridor öffnete zwischen dem Laurentidischen Eisschild, der Nordamerika von der Ostküste bis an die Rocky Mountains bedeckte, und dem Kordilleren-Eisschild des Hochgebirges.

Die Wahl dieses Weges erschien so logisch, dass die näheren Umstände nicht weiter hinterfragt wurden, wie und wann genau die Jägergruppen dem Wild folgten und dabei immer weiter in das Innere einer neuen Welt vorstießen. Erst als sich bei exakten Datierungen in den letzten 30 Jahren mehrere Fundstellen als 2000 bis 3000 Jahre älter erwiesen, als die etablierte Lehrbuchmeinung es zuließ, begann man, die Wanderwege genauer zu untersuchen. Glaziologische Untersuchungen haben gezeigt, dass sich der rund 1500 Kilometer lange Korridor von Norden und Süden her vor etwa 14 500 Jahren zu öffnen begann. Zu diesem Zeitpunkt hatten erste Gruppen jedoch bereits Südamerika erreicht.

Barrieren und wie man sie umgeht

Eine Forschergruppe aus den USA, Kanada, Dänemark und Großbritannien unter Leitung von Eske Willerslev von der Universität Kopenhagen machte sich daran, den Korridor nach genetischen Spuren früheren Lebens zu durchsuchen. Dazu wurden Sedimentproben aus dem Charlie Lake in British Columbia und dem Spring Lake im kanadischen Bundesstaat Alberta entnommen. Im näheren Umfeld der beiden Seen bestand nach bisherigen Erkenntnissen eine Art Flaschenhals zwischen den Eismassen auf dem Weg nach Süden. Bodenproben aus den Ablagerungen am Seengrund eignen sich gut, um Vegetation und klimatische Verhältnisse früherer Jahrtausende zu untersuchen. Insgesamt neun Proben wurden im Kopenhagener GeoGenetik-Institut auf DNA-Spuren untersucht. Dabei wandten die Forscher die sogenannte Shotgun-Methode an, bei der alles genetische Material, das in der Schicht vorhanden ist, auf einen Schlag untersucht wird. In diesem Prozess werden die gefundenen DNA-Bruchstücke einzelnen Tier- und Pflanzenarten zugeordnet. Das erlaubt die Rekonstruktion der Fauna und Flora eines Gebietes in vorhistorischen Zeiten. Die Ergebnisse sind verblüffend, denn es zeigte sich, dass der Korridor in den ersten 2000 Jahren seiner Existenz ohne nennenswerte Vegetation war. Vermutlich waren die eisfreien Flächen bedeckt von Gletscherseen und Mooren. Rechnet man noch kalte Fallwinde von den Gletschern und das gänzliche Fehlen von Wild hinzu, war der Korridor genauso unpassierbar wie zuvor als Eisfläche.

Erst vor 12 600 begann sich die Flora und Fauna im Korridor zu ändern. Bis vor rund 10 000 Jahren hatten sich Gräser, Kräuter, Birken, Weiden und Wüstensalbei angesiedelt sowie Bison, Mammut, Elche und andere Pflanzenfresser angezogen. Auch ihre Jäger wie Wolf und Adler lassen sich nun in den Seesedimenten nachweisen. Erst nach diesen Veränderungen konnten die Paläo-Indianer Alaska verlassen und in das sich immer weiter ausdehnende Land einwandern. Zum Ende dieser Periode hin schloss sich der Korridor wieder, als die Mammutsteppe abgelöst wurde von dichten Wäldern, wie sie noch heute zu sehen sind. Solche Wälder stellten ein Hindernis dar für weite Wanderungen, da sie wildärmer waren. Dazu kommt, dass die Neuankömmlinge zumeist flussaufwärts paddeln mussten. Vorausgesetzt natürlich, dass ihre Vorfahren nach wenigstens 5000 Jahren in Beringia und Alaska nicht vergessen hatten, wie man Boote baut und sie den Flüssen Nordamerikas anpasst.

Mit diesem Zeitfenster war der klassische Landweg nach Süden für die ersten Gruppen Neuankömmlinge auf den ersten 1500 Kilometern geschlossen. Hält man sich das technologische Vermögen der Menschengruppen jener Zeit vor Augen, blieb für weitere Südwanderer nur eine Möglichkeit: Sie paddelten entlang der Küste Nordamerikas. Zwar sind bis heute keine Bootsreste gefunden worden, aber die Topographie lässt keine andere Möglichkeit zu. Die Gletscher erstreckten sich bis an die Küste und machten den Fußweg für Hunderte von Kilometern nicht oder nur schwer passierbar. In Booten konnten die Einwanderer um diese Hindernisse herum fahren und gleichzeitig Seetiere fangen sowie Muscheln und Tang ernten. Ruhepunkte fanden sie in geschützten Buchten. Dass solche vermuteten Lager bis heute noch nicht nachgewiesen wurden, ist einerseits fehlenden Untersuchungen in einem riesigen Gebiet zuzuschreiben und andererseits dem Umstand, dass die damalige Küste etwa 50 Kilometer weiter im Pazifik verlief.

Ein, zwei oder drei Besiedlungen?

Die Studie des Teams um Willerslev (»Nature«, DOI: 10.1038/nature 19085) liefert überdies indirekte Antworten auf die lange diskutierte Frage, ob Amerika von einer Einwanderungsgruppe aus Asien oder mehreren besiedelt wurde. Gegenwärtig schälen sich zwei Zeitfenster heraus, in denen die Anwesenheit von Menschen in Alaska/Beringia nachgewiesen ist und die klimatischen wie topographischen Voraussetzungen für ihre weiteren Wanderungen nach Süden gegeben waren. Es wird heute als relativ sicher angesehen, dass sie mehrere Tausend Jahre in Beringia und Alaska durch Gletscher isoliert lebten und hier einen eigenständigen Genpool herausbildeten, bevor sie weiter nach Süden aufbrechen konnten. Beringia wird als flache, baumlose Steppe vermutet, die jedoch der eiszeitlichen Megafauna genug Futter bot und so Jägergruppen die Existenz sicherte. Modellrechnungen ergaben, dass hier etwa 4000 Menschen lebten, die den Grundstock der indianischen Bevölkerungen beider Amerikas bildeten. Vergleichende DNA-Untersuchungen der nur wenigen gefundenen Knochen- und Koprolith-Funde (versteinerte Fäkalien) der ersten Einwanderer mit der DNA heutiger Indianer Nord- und Südamerikas haben die Abstammung und enge Verwandtschaft bestätigt.

In der ersten Welle drangen die Bootsbauer entlang der Pazifikküste vor. Der Seeweg würde ihr Erscheinen schon etwa 1000 Jahre später in Chile ermöglicht haben, wobei einzelne Gruppen vermutlich auch Vorstöße in das Landesinnere unternahmen. Das würde beispielsweise die Funde in der Paisley-Höhle (US-Bundesstaat Oregon) erklären. Besonders reiche Quellen an Wild und Rohmaterial für Steinwerkzeuge sorgten dafür, dass verschiedene Gruppen hier aufeinandertrafen und es so zu neuen genetischen Vermischungen kam.

Die zweite Einwanderungsgruppe wanderte nördlich der Brooks-Berge in Alaska und stieß rund 2000 Jahre später auf den bekannten Korridor im Eis. Dieser bot einen willkommenen Ausweg aus der bisherigen Heimat, die infolge der anhaltenden Eisschmelze langsam, aber sicher wieder vom Meer überflutet wurde. Der einzelne Paläo-Indianer dürfte von diesem unaufhaltsamen Prozess nicht viel gemerkt haben. Einzelne Forscher sehen in den Mythen einiger indianischer Völker vom Weltenuntergang durch eine Art Sintflut einen späten Nachhall dieser prähistorischen Ereignisse.

Die Annahme von zwei getrennten Einwanderungsgruppen würde jedenfalls auch die schon lange bekannten Unterschiede in den Zahnformen, kleine genetische Abweichungen sowie die relativ eigenständigen Sprachstrukturen der sogenannten Amerind- und Na-Dené-Gruppen erklären. Zu letzteren gehören eine Reihe Völker im Nordwesten von Kanada und den USA, aber auch die Apachen und Navajo im Südwesten der USA, während alle anderen indianischen Völker den Amerind zugeordnet werden. Der endgültige Beweis steht aber noch aus und wird durch die Ablehnung vieler Indianer erschwert, Blut- und Gewebeproben für vergleichende Untersuchungen bereitzustellen. Neben religiösen Einwänden gibt es auch gute Gründe für eine solche Ablehnung in der Geschichte des Umgangs der Europäer mit den Ureinwohnern. Wurden doch auch in den USA wissenschaftliche Ergebnisse über Minderheiten nicht selten politisch missbraucht.

An beiden Ufern der Beringstraße entwickelten sich mehrere Tausend Jahre später erneut Kulturen, die sich von der Tschuktschenhalbinsel bis Grönland erstreckten. Diese Gruppen entwickelten die Saqqua-, Dorset- und Thule-Kulturen. Letztere sind die Vorfahren der modernen Inuit, während die anderen Gruppen ausstarben. Für alle gilt, dass sie genetisch enger mit den Alëuten und sibirischen Gruppen verwandt sind als mit den indianischen Ureinwohnern Amerikas.

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