Misstrauen beherrscht den Jungle
Warum die Campbewohner von Calais genüber echten und vermeintlichen Journalisten vorsichtig sind
Nach sieben Tagen in Calais liegen mehrere Stunden gesprochenes Interview-Material auf unseren Festplatten. Fernfahrer, Geflüchtete, Gewerkschafter, Volunteers, Lokalbevölkerung, Anwohner des Jungle. Wir sind keine Profis und müssen erst langsam lernen, dass eine direkt auf unser Erkenntnisinteresse abzielende Frage nicht den gewünschten Effekt haben wird.
Küchentischpsychologie trifft somit auf trial and error beim Erstellen der Interview-Fragen. »What do you think about the system of distribution in the jungle?« ist wohl eher eine Meta-Frage und funktioniert im konkreten Gespräch nicht unbedingt. Stattdessen besser ganz konkret fragen: »Where do you get your clothes/shoes from? How do you feel when you have to queue?«. Wir steigen lieber mit unzweideutigen Fragen zu Flucht und Spendenlage ein, um später möglicherweise interne Hierarchien in den Camps, Schwarzmarkt und politische Organisierung zur Sprache zu bringen. Das erfordert Zeit und Energie. Letztlich auch Vermögen, sich immer wieder der einzelnen Person anzunehmen. Für manche von uns ist schon nach einem 45 minütigen Interview das Gefühl erreicht, sich nicht mehr auf eine weitere Person einlassen zu können. Denn es ist auch immer wieder ein taktisches Vorgehen und ein instrumenteller Umgang mit konkreten Menschen, weil wir Frageabsichten haben, auf die wir hinaus wollen und dorthin das Gespräch lenken müssen. Die Interviews mit Bewohnern des Jungles sind mitunter eher ernüchternd, gar redundant. Und schließlich erhalten wir in Gesprächen ohne Aufnahmegerät oder Stift & Block mehr Infos.
Womöglich haben die Menschen hier einfach schon zu viel erlebt, um mal eben über ihre Erfahrungen von Flucht und staatlicher Gewalt zu sprechen. Wir hören von Afghanen, die als Teenager mehrere Jahre in Großbritannien gewohnt hatten und mit ihrer Volljährigkeit zurück in ihr vermeintliches Heimatland geschickt wurden. Dort können sie niemandem in die Augen sehen. Für das Scheitern im europäischen Asylsystem werden sie als Individuen verantwortlich gemacht. Jetzt sind sie wieder hier in Calais, zum zweiten Mal schon, weil sie den langen Weg der Flucht doppelt auf sich nehmen mussten, und wollen einfach nur nach Hause. Über den Kanal.
»You cannot call this an asylum system, it is a revolving door« merkt ein Engländer trefflich an. Er ist freischaffender Dokumentarfilmer und stellt beim gemeinsamen Abendessen bohrende Nachfragen an einen jungen Afghanen, der eines der wenigen noch funktionierenden Restaurants im Jungle betreibt. Seine Fragen treffen auf Misstrauen. Jeder vermeintliche Journalist, so erklärt der Restaurantbesitzer, könne auch ein Regierungsbeamter sein, der Informationen sammeln will, welche Personen schon in Frankreich oder anderen Ländern unter die Dublin-Bestimmungen fallen. Wir sind verunsichert, packen den Notizblock ein und überdenken unsere Recherchepraxis. Ähnliche Reaktionen haben wir auch schon in Interviewsituationen erlebt. Werden bei den Migrationsverfahren auch Stimmen überprüft und was machen wir mit den Audioaufnahmen? Wir versuchen zu vermitteln, dass unsere Absicht eine solidarische ist. Und dass wir versuchen, eine Öffentlichkeit für die Lage der Geflüchteten am Ärmelkanal herzustellen, um ihren Kampf um gleiche Rechte zu unterstützen. Doch warum sollte man uns das glauben? »What is my benefit?« fragt ein Geflüchteter vor dem Interview. Er denkt, wir verkaufen die Informationen, die er uns gibt. An große Presseagenturen oder an den Staat.
Nichts liegt uns ferner. Unser Anliegen ist ein politisches, es zielt auf die Abschaffung jener Verhältnisse, unter denen Menschen Entrechtung und soziale Exklusion erfahren. Doch von Politik will unser Gesprächspartner aus sicher verständlichen Gründen nichts wissen. Also vermeiden wir den Begriff. Was können wir ihm anbieten? Politische Arbeit, die auf die Abschaffung von Staat, Nation und Kapital zielt, ist extrem langwierig und unkonkret. Sie ist abhängig von Kräfteverhältnissen, die emanzipatorischen Bestrebungen derzeit in Europa kaum Luft zum Atmen gewähren. In einer Umgebung akuten Mangels und existentieller Bedrohung, wie sie den Alltag im Lager prägt, besteht keine Möglichkeit zu warten, bis sich die politische Großwetterlage ändert.
Den Bewegungen des Willkommens, der Solidarität, der Migration und des Antirassismus, die es ja durchaus gibt und die durchaus bereits vernetzt sind, gelingt es bislang nicht, der europäischen Abschottungspolitik Einhalt zu gebieten. Obwohl die Rhetoriken hinter dieser Abschottung oft so dumm und die Argumente oft so lächerlich sind, funktionieren einfache Lösungen im tagespolitischen Betrieb. Als wir den Gewerkschaftsfunktionär gestern nach dem neuen Prestigeprojekt der britischen Regierung fragten (die »große Mauer von Calais«), kam jener aus einem zynischen Lachen nicht mehr heraus. »Warum sollten sich Menschen, die 15.000 Kilometer vor Krieg und Elend geflohen sind, von einer 15 km langen Mauer aufhalten lassen?« Und doch spüren wir am Ende dieser Tour wieder die Ohnmacht die wir durch Praxis zu überbrücken versuchten. Wir stehen mit leeren Händen da, weil es der emanzipatorischen Linken schon lange vor Eintritt der humanitären Katastrophe in Europa nicht gelungen ist, eine nennenswerte gegenhegemoniale Position zu den ökonomischen Ausschließungen und den jnationalistischen und rassistischen Schließungen aufzubauen. Diese Problematik müssen wir reflektieren, wenn wir im Jungle davon sprechen, dass wir den Kampf der Geflüchteten um gleiche Rechte politisch begleiten und supporten wollen.
Praktische Akte der Solidarität hat es innerhalb des letzten Jahres jedoch in der Tat gegeben, manche waren wirkmächtig. In Athen wurde das beste Hotel Europas eröffnet. Aus Ungarn wurden über Wochen tausende Geflüchtete bis Österreich und manchmal bis Deutschland geshuttelt. Aus Lübeck organisierten Unterstützer*innen Überfahrten nach Schweden und besetzten für die ankommenden Geflüchteten einen Bauernhof. Auch in Calais wurden ab 2009 wiederholt Häuser besetzt, damit die Menschen auf der Durchreise ein Dach über dem Kopf haben. Zeitweise gab es darin Platz für bis zu vierhundert Menschen. Momentan gelingt es den beteiligten Aktivisten aber kaum noch, besetzte Häuser über einen nennenswerten Zeitraum zu halten. Die spontanen Akte der Solidarität entspringen meist kurzen Zeitfenstern, in denen sich Möglichkeitsräume erweitern lassen. Doch was hieße Solidarität im Jungle? Wir können nichts anbieten und schon gar nichts versprechen. Dass wir uns auf dem Papier, hier in diesem Tagebuch auf der Homepage einer deutschen Tageszeitung, mit den Menschen solidarisch erklären, nützt den Refugees vor Ort reichlich wenig. Solidarität ist schwer erklärbar und noch weniger beweisbar. Wir können es den britischen Volunteers nicht zum Vorwurf machen, dass sie sie keine Fluchthilfe organisieren, denn die Sanktionsdrohung und die alltägliche Repression, die wir beobachten und dokumentieren, wirkt auch auf uns. Das Wissen um die Härte dieses Grenzregimes hält uns davon ab, zu shutteln.
Bleibt also nur der unbefriedigende, langwierige, mit Blick auf die politische Arena teils aussichtslose Versuch, an den Kräfteverhältnissen zu rütteln. Die Rede von begrenzten Kapazitäten und mangelnden Ressourcen in Frage zu stellen. Die Perspektive der Geflüchteten auf die politische Agenda zu setzen. Wir wollten Stimmen aus dem Jungle aufnehmen und weitertragen. Um wirkliche Vertrauensverhältnisse aufzubauen, sind wir jedoch nicht lang genug da. Daher bleibt es bei nur einem längeren Interview mit einem Bewohner des Jungle. Faris* ist der neue ‘Bibliothekar’ in Jungle Books. Er steht einem Gespräch sehr schnell aufgeschlossen gegenüber - ähnlich wie Sharif* im März.
Unseren Plan, von dem auf der Ausstellungstour gesammelten Geld mehrere Netbooks und Router für ein selbstorganisiertes Internetcafé in Jungle Books zu kaufen, verwirklichen wir nun aufgrund der angedrohten Räumung und der hohen Fluktuation in Jungle Books nicht. Allerdings handeln wir nach wie vor nach den schon im März formulierten Prämissen, dass wir einerseits direkte Unterstützung leisten möchten, ohne Individuen zu bevorzugen, andererseits unsere Unterstützung nachhaltig und für alle zugänglich sein soll. Wir möchten also weder Kisten am Lagereingang abladen, noch das Geld in den Töpfen der großen Organisationen versickern sehen, noch einzelne Communities im Jungle stärken, die vielleicht sowieso schon Machtpositionen besetzen. Wir legen die Spenden also zurück und suchen, wenn nicht in Calais dann entlang der noch existenten Fluchtrouten Europas, nach Supportstrukturen, die entsprechende Alternativen zur verobjektivierenden Massen-Distribution und zur individuellen Bevorzugung darstellen. Die Drucker und auch die Router, die wir im März für Jungle Books besorgt hatten, sind allerdings noch da und einer davon ist jetzt sogar im Kids Café im Einsatz. Wir lassen SIM-Karten da, mit denen zumindest für den kommenden Monat offener Internetzugang ermöglicht werden kann, und bleiben in Kontakt mit einer Unterstützerin, um im Bedarfsfall weitere zu finanzieren. Dann fahren wir in den Baumarkt und kaufen Sicherheitsschlösser sowie Winkel. Faris möchte Jungle Books sichern, denn er trägt die Verantwortung und kann kaum in Ruhe seine Hütte verlassen.
Als wir auf dem Heimweg hunderte Meter an dem Zaun entlang laufen, der den Jungle von der Autobahn trennt und der mittlerweile um weitere Rollen Stacheldraht verstärkt wurde, fragen wir uns, ob wir die 130 Euro im Baumarkt nicht besser in zwei Bolzenschneider und eine Flex hätten investieren sollen… Doch woher wissen wir, ob derartige Gerätschaften einem demokratischen Gebrauch zugeführt würden? Das richtige Werkzeug und die richtigen Kontakte, ebenso wie konkretes Wissen über die richtigen Truckstops und Schlupflöcher im Zaun, sind verschiedene Formen von Kapital, deren Wert unter den Bedingungen eines Lagers in die Höhe schnellt. Die Aneignung dieser Kapitale durch Einzelpersonen oder Gruppen verschiebt die Machtstrukturen im Camp und macht die Schwachen noch verletzlicher. Am politischen Kampf für legale und sichere Fluchtrouten führt kein Weg vorbei und es ist ein Kampf, den wir führen müssen, auch wenn dies ein langwieriger Kampf ist, aber innerhalb des bestehenden Grenzregimes mit all den Machtstrukturen und Strukturen die die Betroffenen noch verletzlicher und zu noch stärker ausgebeuteten macht, die jenes produziert und reproduziert, gibt es keine Verbesserung der Situation in den Lagern am Ärmelkanal und überall in Europa. There is no good life in the Jungle, sagt Faris*. Es sollte keine Lager geben.
*Name von der Redaktion geändert
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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