Abgeordnete besuchen Türkei im Ausnahmezustand

Verteidigungsausschuss reist zum Luftwaffenstützpunkt Incirlik / Notstand um drei Monate verlängert / Razzia bei oppositionellem Fernsehsender

  • Lesedauer: 4 Min.

Berlin. Nach wochenlangem Streit über die Armenien-Resolution des Bundestags reist eine Delegation des Verteidigungsausschusses am Dienstag erstmals in die Türkei. Nach Gesprächen in Ankara am Dienstag stehen am Mittwoch Besuche der Bundeswehrsoldaten auf dem türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik sowie abschließend des Allied Land Command der NATO in Izmir auf dem Programm. In Incirlik wollen sich die Verteidigungspolitiker von Union, SPD, Grünen und Linken über die Einsatzbedingungen der deutschen Soldaten im Kampf gegen die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien und Irak informieren.

Um die Reise hatte es Streit zwischen Berlin und Ankara gegeben. Die Türkei hatte den Abgeordneten in den vergangenen Monaten nicht erlaubt, die Bundeswehrsoldaten zu besuchen. Hintergrund des Konflikts war die Anfang Juni verabschiedete Armenien-Resolution des Bundestags. Darin stufte der Bundestag die ab 1915 im damaligen Osmanischen Reich an den Armeniern begangenen Massaker als Völkermord ein. Die Türkei wehrt sich seit Jahren gegen die von vielen Staaten und Historikern für richtig erachtete Verwendung des Begriffes Völkermord.

Zuvor hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel eingelenkt, dass eine Resolution des Bundestages juristisch nicht bindend sei. Der in die Türkei reisende SPD-Verteidigungsexperte Rainer Arnold sagte am Dienstag, der Besuch auf der Luftwaffenbasis sei nicht erkauft worden und es habe sich nicht um eine Distanzierung gehandelt: »Die Bundesregierung kann sich nicht inhaltlich vom Bundestag distanzieren, und das hat sie auch nicht gemacht.« Vielmehr habe sie »erklärt, dass eine Resolution die Funktion einer Resolution hat und die Meinung des Parlaments wiedergibt«. Sowohl die Türkei als auch Deutschland müssten ein Interesse daran haben, »Partner« zu bleiben.

Ausnahmezustand um drei Monate verlängert, neue Razzien bei Fernsehsender

Unterdessen hat sich die politische Situation in der Türkei nicht beruhigt. Am Dienstag führte die Polizei beim regierungskritischen alevitischen Fernsehsender Hayatın Sesi TV eine Razzia durch. Der Regieraum sei geschlossen worden, berichtet der Sender auf Twitter. Der Anlass für die Untersuchung ist noch unklar. Der Sender wurde durch seine ausführliche Berichterstattung über die Gezi-Proteste 2013 bekannt. »Wir werden weiterhin die Wahrheit sagen«, schreibt Hayatın Sesi auf Twitter. Die LINKE-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen kommentierte: »Erdogans Amoklauf geht weiter.«

Der nach dem Putschversuch in der Türkei verhängte Ausnahmezustand war zuvor vom Kabinett um 90 Tage verlängert worden. Mit der Verlängerung, die durch die Veröffentlichung im Amtsblatt in Kraft tritt, endet der Ausnahmezustand mit Ablauf des 15. Januars. Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus sagte, die Türkei werde den Kampf gegen alle »Terrororganisationen«, allen voran gegen die Gülen-Bewegung, mit Entschlossenheit weiterführen. »Und mit den rechtlichen Möglichkeiten, die der Ausnahmezustand bietet, wird dieser Prozess, so Gott will, in kürzester Zeit mit Erfolg abgeschlossen«.

Der von Erdogan verhängte Ausnahmezustand nach dem Putschversuch Mitte Juli war am 21. Juli für 90 Tage in Kraft getreten und endete bislang am 18. Oktober. Unter ihm kann der Staatspräsident per Notstandsdekret regieren. Das Parlament muss dem Kabinettsbeschluss noch zustimmen.

Fast 13.000 Polizeibeamte suspendiert

Bislang wurden während des Ausnahmezustands im Zuge der Ermittlungen zum gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli fast 13.000 Polizeibeamte suspendiert. Unter den insgesamt 12.801 Betroffenen seien 2523 Polizeichefs, teilte das Polizeihauptquartier in Ankara am Dienstag mit. Die Polizisten werden demnach verdächtigt, zur Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen zu gehören, den die Regierung für den Umsturzversuch verantwortlich macht und dessen Bewegung als Terrororganisation eingestuft ist.

Seit dem Umsturzversuch hat die islamisch-konservative Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan bereits zehntausende Soldaten, Polizisten, Ministeriumsbeamte sowie Lehrer und Dozenten suspendiert und 32.000 Menschen wegen angeblicher Verbindungen zu Gülen inhaftiert. Auch zahlreiche kritische Journalisten und Wissenschaftler wurden in Haft genommen. Kritiker werfen der Regierung vor, den gescheiterten Militärputsch als Vorwand zu nutzen, um Gegner zum Schweigen zu bringen.

Neben mutmaßlichen Anhängern Gülens nimmt die Regierung auch verstärkt Sympathisanten der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ins Visier. So wurden im Südosten der Türkei tausende Lehrer unter dem Verdacht suspendiert, Verbindungen zu der Guerillagruppe zu haben. Auch wurden zahlreiche Bürgermeister ihrer Posten enthoben, die den Rebellen nahestehen sollen. nd /Agenturen

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