Recycling als Naturprinzip
Der Nobelpreis für Physiologie und Medizin geht an den japanischen Zellbiologen Yoshinori Ohsumi. Von Martin Koch
Jedes Jahr im September veröffentlicht der Medienkonzern Thomson Reuters seine Favoriten für den Nobelpreis. Pro Fachgebiet (Medizin, Physik, Chemie) geben die Experten drei Tipps ab. Sie entscheiden sich dabei entweder für Forscherteams oder für Einzelpersonen. Doch wie schon 2015 lag Thomson Reuters in der Sparte Medizin auch in diesem Jahr daneben. Zwar befindet sich unter den prognostizierten Laureaten ein Japaner, doch es ist der falsche. Nicht der an der Kyoto University lehrende Immunologe Tasuku Honju erhielt den Medizinnobelpreis, sondern der Zellbiologe Yoshinori Ohsumi vom Tokyo Institute of Technology. Der Ehrlichkeit halber sei jedoch hinzugefügt, dass Thomson Reuters bereits 2013 den Namen Ohsumi auf seine Prognoseliste gesetzt hatte, danach allerdings nicht mehr.
Und noch etwas ist bemerkenswert: Ohsumi muss sich den Nobelpreis, der mit acht Millionen Schwedischen Kronen (rund 830 000 Euro) dotiert ist, mit niemandem teilen. Das passiert eher selten; in den vergangenen 30 Jahren wurde diese besondere Ehre nur vier Personen zuteil. Gewöhnlich sind es zwei oder drei Wissenschaftler, die einen Nobelpreis erhalten für Arbeiten, an denen häufig noch mehr Forscher beteiligt waren.
Wie das Nobel-Komitee am Karolinska Institut in Stockholm am Montag mitteilte, wird Ohsumi «für seine Entdeckung des Mechanismus der Autophagie» geehrt. Dieser aus den griechischen Wörtern «auto» (selbst) und phagein (essen) zusammengesetzte Begriff bedeutet so viel wie «sich selbst essen». Tatsächlich beschreibt er ein Abbau- und Recyclingsystem in Zellen, das dazu dient, unbrauchbar gewordene organische Bestandteile oder eingedrungene Erreger zu entsorgen.
Im Grunde ist die Existenz eines solchen Systems schon seit den 1960er Jahren bekannt. Es funktioniert nach folgendem Prinzip: Nicht mehr benötigte oder zu erneuernde Proteine und Zellbestandteile werden in kleine Bläschen gepackt, dann zu einem größeren Bläschen, einem sogenannten Lysosom, transportiert und dort mit Hilfe von Enzymen abgebaut. Als Entdecker des Lysosoms gilt der belgische Biochemiker Christian de Duve, der auch den Begriff Autophagie geprägt hat. 1974 erhielt er den Nobelpreis.
Doch erst durch Ohsumis Arbeiten wurde Anfang der 1990er Jahre klar, wie die zellulären Recyclingprozesse im Einzelnen ablaufen und welche Bedeutung sie für die menschliche Gesundheit haben. Denn ohne eine geregelte Entsorgung und Wiederverwertung des permanent anfallenden Zellmülls wäre vielzelliges Leben auf Dauer nicht möglich. Ähnlich wie das bei einer Stadt der Fall ist, würde eine aktive Zelle ohne Entsorgung rasch an ihrem eigenen Müll ersticken.
Das «Versuchskaninchen» der Zellbiologen ist die Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae«, an der auch Ohsumi seine mit dem Nobelpreis bedachten Forschungen durchführte. Am Modell der Hefe kann man nämlich zelluläre Vorgänge studieren, die in ähnlicher Form beim Menschen ablaufen. Mittels ausgeklügelter Experimente gelang es Oshumi und seinen Kollegen, 15 Gene zu identifizieren, die maßgeblich daran beteiligt sind, dass die Autophagie reibungslos funktioniert.
Dieses genetische Programm gewährleiste von der Hefe bis zum Menschen die kontinuierliche Erneuerung der Zellen, sagt Tassula Proikas-Cezanne von der Universität Tübingen. Sei der Mechanismus jedoch gestört, spiegele sich das in vielen Erkrankungen wider. Dazu zählen unter anderem Parkinson, Morbus Crohn und Diabetes Typ 2. Aber auch bei Krebs sowie einigen altersbedingten Erkrankungen spielen Defekte im zellulären Recyclingsystem eine wichtige Rolle, zumal vieles darauf hindeutet, dass die autophagischen Prozesse im Alter herunterreguliert werden.
Zwar ist das, was Ohsumi geleistet hat, klassische Grundlagenforschung. Dennoch suchen Wissenschaftler schon heute nach Wirkstoffen, die die Autophagie in den Zellen gezielt hochfahren oder drosseln. Davon könnten zum Beispiel Alzheimerpatienten profitieren. Sollte es nämlich gelingen, die schädigenden Proteine, die sich in deren Gehirn ablagern, durch ein verstärktes zelluläres Recycling teilweise wieder abzubauen, wäre das ein bedeutender Fortschritt bei der Behandlung der neuen Volkskrankheit.
»Die Arbeit von Ohsumi hat das Verständnis des lebenswichtigen Prozesses der Autophagie dramatisch verändert«, heißt es in einer Mitteilung des Nobel-Komitees. Wie nicht anders zu erwarten, zeigte sich der 71-jährige Japaner überwältigt von der Auszeichnung: »Das ist eine Freude für einen Forscher, die nicht zu übertreffen ist.« Auf die Frage, warum er sich auf die Auflösung und nicht die Zusammensetzung von Proteinen fokussiert habe, erklärte Ohsumi gegenüber dem japanischen Fernsehsender NHK: »Ich wollte etwas tun, das die anderen nicht taten.«
Als Sohn eines Professors für Ingenieurwesen wurde Ohsumi am 9. Februar 1945 in Fukuoka geboren. Sein Studium absolvierte er an der Universität Tokio, wo er 1974 auch promoviert wurde. Hatte sich anfangs für das Fach Chemie entschieden, wechselte er später zur Molekularbiologie, die sich damals weltweit im Aufbruch befand. 1974 ging er an die Rockefeller University in New York City und wurde Postdoktorand bei Gerald Edelman, der 1972 für seine Arbeiten über die chemische Struktur von Antikörpern den Medizinnobelpreis erhalten hatte. 1977 kehrte Ohsumi an die Universität Tokio zurück, wo er bis 1996 blieb. Danach lehrte er als Professor an anderen japanischen Einrichtungen. Seit seiner Emeritierung im Jahr 2009 gehört Ohsumi dem Tokyo Institute of Technology an.
Ohsumi ist der sechste Japaner, der mit dem Medizinnobelpreis geehrt wurde. Und zwar für eine Entdeckung, die er und sein Team bereits vor 23 Jahren gemacht hatten. In seiner Begründung beruft sich das Nobel-Komitee ausdrücklich auf einen Aufsatz aus dem Jahr 1993, in dem Ohsumi erstmals über die von ihm entdeckten 15 Autophagie-Gene berichtete.
An sich sind 23 Jahre Wartezeit beim Medizinnobelpreis keine Seltenheit. Manche Wissenschaftler mussten viel länger auf ihre Einladung nach Stockholm warten. Den »Rekord« hält der US-Amerikaner Francis Peyton Rous. Er wurde 1966 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet - für seine Arbeiten über tumorerzeugende Viren, die er 55 Jahre zuvor durchgeführt hatte. Dass das Nobel-Komitee mitunter auch sehr schnell reagieren kann, zeigt der Fall des amerikanischen Arztes Philip Showalter Hench. Dieser erhielt 1950 den Medizinnobelpreis für den Nachweis der biologischen Wirkungen von Hormonen der Nebennierenrinde. Seine Versuche hierzu lagen da gerademal ein Jahr zurück.
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