»Ha, die Volkskultur!«

Wissenschaftler und Wichtelmännchen: J. J. Voskuils Romanreihe »Das Büro« erscheint erstmals vollständig auf Deutsch

Als ich vor gut 25 Jahren einen Job als studentische Hilfskraft in der germanistischen Forschungsstelle einer nordmittelhessischen Universität antrat und das Team schon nach einer Woche einen seiner seltenen Betriebsausflüge unternahm, beglückwünschte mich mein Vorgänger. Auf den Spuren des beforschten Autors hätte ich nun die Gelegenheit, »gleich alle Psychopathen auf einen Schlag kennenzulernen«. Das war sehr liebevoll gemeint. Die sechs Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nebst Hilfskräften waren damals schon ziemlich lange damit beschäftigt, das wenige Hundert Seiten umfassende Gesamtwerk jenes Autors für eine achtzehnbändige historisch-kritische Ausgabe aufzuarbeiten. Mit dem Zeitplan waren sie bereits mehrere Jahre in Verzug, und es sollte noch beinahe ein Jahrzehnt dauern, bis die ersten Teilbände erschienen. In der Materie steckten sie so tief drin, dass sie jederzeit bereit waren, für ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse in einen »kleinen Krieg der Germanisten« zu ziehen, wie etwa eine für die Außenwelt unbegreiflich heftige Auseinandersetzung mit der südmittelhessischen Forscherkonkurrenz in der Presse bezeichnet wurde.

Für die Arbeit am niederländisch-flämischen Atlas der Volkskultur veranschlagt Maarten Koning, wissenschaftlicher Beamter am Amsterdamer Institut zur Erforschung derselbigen, rund 400 Jahre. Auf die Ermahnung seines Chefs, Professor Anton Beerta, hin, doch bitte ernst zu bleiben: »›Wenn der erste Band im nächsten Jahr erscheint, haben Sie fünfundzwanzig Jahre daran gearbeitet‹, rechnete Maarten vor. ›Davon ziehen wir fünf Jahre für den Krieg ab, das macht dann zwanzig Jahre. Es gibt zwanzig Bände. Das sind also vierhundert Jahre, oder eigentlich dreihundertachtzig, um genau zu sein.‹ ›Aber ich habe ganz alleine davorgestanden. Und jetzt bist du da.‹ ›Gut, zweihundert Jahre.‹«

Zwar nicht ganz 200 Jahre, aber doch fast ein Arbeitsleben lang - 30 Jahre, 46 Wochen im Jahr, zunächst sogar sechsmal die Woche - mit Aktentasche, Butterbroten und einem Apfel am gleichen Arbeitsplatz zu erscheinen, bleibt nie ohne schwerwiegende Folgen. Erst recht nicht bei einem kritischen, empfindsamen Geist wie Maarten Koning. Sich mit den Bräuchen um Wichtelmännchen, Irrlichter und die Nachgeburt von Pferden beschäftigen zu müssen, macht die Sache nicht leichter, geschweige denn Fragebögen, Karteikarten und Konferenzen, widerspenstige Mitarbeiter und selbstgefällige Professoren. Das sind die Laborbedingungen, unter denen sich die Handlung von Johannes Jacobus Voskuils siebenbändiger Romanreihe »Das Büro« abspielt und die Maarten Koning, die Hauptfigur, zum Wahnsinn treiben. Er braucht zweieinhalb dicke Bände, um sich notdürftig mit einem Trick zu behelfen: »Man muss das Büro einfach als eine Einrichtung betrachten. Wenn man das macht, wird der Rest von selbst wieder normal.« Doch ist auch das nur ein schwacher Trost für eine Mitarbeiterin, die ihm gesteht, in psychiatrischer Behandlung zu sein.

Konings hellsichtige Frau Nicolien ahnt das Ausmaß der Misere gleich zu Beginn und bricht in Tränen aus, als er die Zusage für die Stelle bekommt: »Ich kann es nur nicht ertragen, dass unser Leben zu Ende sein könnte«, sagt sie und schämt sich für ihren Gefühlsausbruch, obwohl sie hätte schreien, kratzen und beißen sollen. Denn tatsächlich verliert sie ihren Mann in gewisser Weise an diesen »Job fürs Leben«. Ungeachtet dessen, dass er seine Tätigkeit für vollständig sinnlos hält, die Existenz der gesuchten Kulturgrenzen anzweifelt und »die Volkskultur« für eine sozialhistorische Wissenschaft hält, die mit den für den Atlas festgelegten Methoden nicht adäquat zu erforschen ist, rutscht er immer tiefer in die Sache hinein.

Kaum schwindet die Illusion, er könne die Erwerbsarbeit so leichtfertig beenden, wie er sie angefangen hat, verändert sich die Zeitwahrnehmung. Lebte Koning vorher von Tag zu Tag, sind solche Einheiten plötzlich gar nicht mehr wahrnehmbar. »Du bist gerade erst auf einem Kongress gewesen«, heißt es, doch war das vor drei Jahren. Wie auf dem Zauberberg vergeht die Zeit wie nichts. Schon geht es um Stellen, die erst in Jahren frei werden, wird die verbleibende Zeit bis zur Rente ausgerechnet. Und Koning sagt zu seiner Frau: »Wir werden alt. Bevor wir es merken, sind wir tot.« Da sind die beiden zwar erst Mitte 30, aber bisweilen fühlt es sich eben so an.

Dank Voskuil lebt Maarten Koning noch eine Weile und lässt sich mit großem Vergnügen seine Zurichtung in und zwischen kafkaesken Institutionen - das Büro, das Hauptbüro, der Verwaltungsrat, das Museum, die Kommission, das Ministerium - verfolgen. Selbst ohne das heutige Ausmaß an Arbeitsverdichtung und Drittmittelantragsdruck stellen sich bald Albträume ein: »Halb im Schlaf sah er sich selbst als kleines Tier, das verzweifelt durch einen hohen grauen Raum rannte, ohne einen Ausgang finden zu können.«

Die wahre Hölle sind dabei natürlich immer die anderen: die Kollegen, die man jeden Tag treffen muss. Insbesondere für jemanden wie Koning, der sich »unter Menschen nicht wohlfühlt«. Jeder kennt sie, die Typen des Büros: die argwöhnischen, die sich permanent ungerecht behandelt fühlen, die hypochondrischen, die wegen Rachenpusteln wochenlang ausfallen, die stoischen, die jede Aufgabe an sich abprallen lassen. Kaum einer ist ohne Tick oder Marotte, was in der Summe wieder geradezu normal ist. Dagegen scheint Intellekt eine verzichtbare Eigenschaft in dem wissenschaftlichen Institut zu sein. »Auf geistigem Gebiet finde ich, glaube ich, nichts schön«, gibt einer zu, »außer Kreuzworträtsel lösen«. »Junge, Junge, so viele Bücher«, sagt ein anderer, der nach Meinung von Beerta über »genau die richtigen Qualitäten« für seine Arbeit verfügt, da er perfekt kopieren kann und gern stempelt.

Beerta wiederum ist ein väterlicher Freund für Koning, vertritt aber auch Prinzipien, die dieser verachtet: »Du darfst einen Vorschlag der Kommission niemals ablehnen, auch wenn er noch so unsinnig ist.« Oder: »Der Verwaltungsrat irrt sich nicht.« Vor allem aber das: »Alle Sitzungen sind wichtig. Man trifft interessante Leute, und außerdem haben sie auf den Sitzungen der Gesellschaft immer diese leckeren Kekse.«

Konings Klagen über die Sinnlosigkeit und die Schlechtigkeit der Welt sind in Anbetracht seiner Existenz als wissenschaftlicher Beamter mit größter materieller Sicherheit das, was gemeinhin als »Jammern auf hohem Niveau« bezeichnet wird. Und doch ist dies natürlich kein Widerspruch zu seiner Verzweiflung wegen der eigenen Unzulänglichkeiten und der Unfähigkeit, einen Neuanfang zu wagen. So wird Koning zum guten Bekannten, der sich »mit den Verhältnissen zu arrangieren lernt -, aber auch einer, der bei alledem das nagende Gefühl nicht los wird, dass es das allein doch nicht gewesen sein kann, was man sich vom Leben erhofft hat«. Das schreibt Gerd Busse im Nachwort zu Band 1; er hat das Mammutwerk in eine wunderbar klare Sprache übertragen.

Voskuil (1926 - 2008), der selbst 30 Jahre lang im Amsterdamer Meertens Instituut für Volkskunde tätig war, hat das Unmögliche geschafft, die Absurdität eines jahrzehntelangen gleichförmigen Alltags in einer Art Beamtensoap unglaublich komisch zu schildern. In den Niederlanden gewann er damit eine große Fangemeinde, die Ende der neunziger Jahre den nächsten Bänden entgegenfieberte. Auf Deutsch erscheint die Reihe nun erstmals vollständig im Berliner Verbrecher Verlag. Die insgesamt rund 5500 Seiten sollten übrigens niemand abschrecken. Im Vergleich zu den 55 000 Stunden, die Maarten Koning im Büro verbracht haben muss, handelt es sich um ein überschaubares Konzentrat - und ist sicherlich unterhaltsamer als die 18-bändige historisch-kritische Ausgabe aus Nordmittelhessen, die seit drei Jahren komplett vorliegt. »Ha, die Volkskultur!«, würde ein Mitarbeiter von Maarten Koning sagen und kichern.

J.J. Voskuil: Das Büro 1: Direktor Beerta. Aus dem Niederländischen von Gerd Busse. Verbrecher Verlag, 848 S., geb., 29 €. Die Bände 2 bis 5 liegen bereits vor; die Bände 6 und 7 erscheinen 2017.

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