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Das Gespenst der Starken

Zygmunt Bauman zerpflückt die irrationale Angst vor den »Fremden«

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 3 Min.

Er musste mehrmals in seinem Leben flüchten. Als die Nazis Polen besetzten, floh Zygmunt Bauman mit seiner Familie in die Sowjetunion. Nach den Unruhen 1968 emigrierte der in Warschau habilitierte Wissenschaftler nach Israel. Anfang der 1970er zog er nach Leeds, an dessen Universität er bis 1990 lehrte. Das Thema Flucht und Migration kennt er aus eigener Erfahrung.


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* Zygmunt Bauman: Die Angst vor den anderen. Suhrkamp Verlag. 125 S., br., 12 €.


In seinem neuen Essay »Die Angst vor den anderen« analysiert der 90-jährige Soziologe die sogenannte Flüchtlingskrise. Er bezieht klare Position gegen rassistische Ausgrenzung und das Schüren von Ängsten und plädiert für einen »engeren Kontakt« und eine »Verschmelzung der Horizonte« statt Spaltung, wie sie von vielen Politikern mehr oder weniger offen propagiert wird. Angesichts der rassistischen Mobilmachung in Europa, rechten Wahlerfolgen und Schließung von Grenzen ist dieses Buch hoch aktuell.

In einer Zeit, in der jeder einzelne individuell Lösungen für die gesellschaftlich produzierten Probleme finden soll, wie der vergangenes Jahr verstorbene Soziologe Ulrich Beck konstatierte, befinden sich viele Menschen im Würgegriff einer alles durchdringenden diffusen Angst. Das ist für die Machthabenden bequem. Flüchtlinge werden verantwortlich gemacht für Konstellationen, die die Mächtigen selbst herbeigeführt haben. Plötzlich gibt es »einen spezifischen, sichtbaren und greifbaren Gegner«, der gegen nationale und persönliche Sicherheitsbedürfnisse ausgespielt werden kann.

Gleichzeitig wird durch das Konstruieren eines die Sicherheit bedrohenden Feindbildes jeder von der moralischen Pflicht enthoben, für die Notleidenden, die auf der Flucht sind, Empathie zu entwickeln und sich solidarisch zu zeigen.

Dies führe zu »einer Verschiebung des Migrationsproblems aus dem Bereich der Ethik in den der Sicherheitsbedrohungen, der präventiven Verbrechensbekämpfung und der Strafverfolgung, der Kriminalität, der Verteidigung der Ordnung und letztlich des Ausnahmezustands«, so Bauman. Gleichzeitig ermögliche die Stigmatisierung der Flüchtlinge als potenzielle Terroristen, wie das etwa Ungarns Premierminister Viktor Orbán tut, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, sorgt die rücksichtslose Ausgrenzung doch wiederum für eine mögliche Radikalisierung Einzelner und arbeitet den Rekrutierungsbemühungen islamistischer Faschisten in die Hände.

Baumann hinterfragt die derzeit im öffentlichen Diskurs immer wieder formulierten Ängste auf ihren politischen Gehalt hin, und inwieweit sie den Herrschenden nützen. Die Welt, so stellt er nüchtern fest, werde in der Wahrnehmung immer mehr in zwei Hälften unterteilt: in eine sichtbare, saubere und gesunde Welt, der ein dunkler, verzweifelter und kranker Rest gegenüberstehe. Durch die Fluchtbewegungen der letzten Jahre werde dieser sonst ausgesperrte Rest nun mit einem Mal sichtbar. Damit sind die Geflüchteten wie die Überbringer einer schlechten Nachricht.

Gleichzeitig findet durch die Reaktionen von Politikern und Machthabern auf die derzeitigen Fluchtbewegungen eine nachhaltige gesellschaftspolitische Verschiebung statt. Der Staat gibt vor, sich um seine Bürger zu kümmern, indem er Sicherheitskonzepte in Aussicht stellt, während er gleichzeitig soziale Sicherungsmechanismen demontiert. Die derzeitigen Debatten um Obergrenzen bei der Aufnahme Geflüchteter gehen ebenso in diese Richtung wie der ständige Ruf nach mehr Polizei. Der in den letzten Jahrzehnten abgebaute Sozialstaat weicht damit immer mehr einer auf sicherheitspolitischen Diskursen fußenden Staatlichkeit. Im Zuge der Logik des Ausnahmezustands erodieren demokratische Grundrechte.

»Ein Gespenst geht um in den Ländern der Demokratie: das Gespenst des starken Mannes«, urteilt Zygmunt Bauman, dessen Appell, sich der auf Spaltung ausgelegten Herrschaftslogik zu widersetzen und stattdessen auf einen Dialog mit den Geflüchteten einzulassen, dringender denn je ist.

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