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Die Geburtsfehler der europäischen Währung
Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz kritisiert die Krisenpolitik der Europäischen Union und fordert einen radikalen Neustart
Die Ohrfeige für den Euro sitzt! Joseph Stiglitz, Träger des Nobelpreises für Wirtschaft von 2001 und Wirtschaftswissenschaftler an der Columbia University, rechnet mit der Fehlkonstruktion der europäischen Währung ab, beklagt die Fesseln der Europäischen Zentralbank und geht hart ins Gericht mit der Politik der Berliner Regierung.
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* Joseph Stiglitz: Europa spart sich kaputt. Warum die Krisenpolitik gescheitert ist und der Euro einen Neustart braucht. A. d. Amerik. v. Thorsten Schmidt. Siedler Verlag. 526 S., geb., 24,99 €.
In Deutschland würde man Stiglitz wohl einen Sozialdemokraten nennen. In der Volkswirtschaftslehre ist er ein Keynesianer. Er misstraut der Weisheit der Märkte und fordert stärkere, angemessene Regulierungen. Auf marktfundamentalistischen Annahmen sei die europäische Gemeinschaftswährung gegründet worden, obwohl die große Unterschiedlichkeit der beteiligten Länder zusätzlich wirksame institutionelle politische Instrumente erfordert hätte. Diese seien aus ideologischen, »neoliberalen« Gründen bewusst nicht geschaffen worden. Mit ihnen hätten die Unterschiede der nationalen Volkswirtschaften der beteiligen Länder in der Euro-Zone berücksichtigt werden können. Die Kräfte des Marktes, auf die die Gründer des Euro vertraut hätten, konnten diese Aufgabe nie erfüllen.
Wenn sich Staaten zu einer Währungsunion zusammenschließen, also ihre Währung an eine andere, gemeinschaftliche binden, vergeben sie sich der souveränen Entscheidung über den Außenwert ihres Geldes. Sie können ihre Währung nicht mehr abwerten, um ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht wieder herzustellen, wenn es in Schieflage gerät und sie können über Anpassungen des Wechselkurses auch keine Arbeitslosigkeit bekämpfen, Vollbeschäftigung anstreben. Hierzu hätte es bei Einführung des Euro der Schaffung institutioneller Strukturen der Regulierung in der Gemeinschaft bedurft. Bei diesem Geburtsfehler, die Stiglitz in seinem Buch im Einzelnen seziert, gäbe es eigentlich nur zwei Richtungen: Entweder mehr oder weniger Europa. Für beide Richtungen schlägt der Autor, jahrelang Chefvolkswirt der Weltbank, Auswege vor, die von einer Vollendung der Währungsunion bis zur geordneten oder auch teilweisen Auflösung reichen.
Stiglitz nimmt vor allem die EZB ins Visier. Sie sei, vor allem auf deutsches Betreiben, ausschließlich der Geldwertstabilität, der Inflationsbekämpfung verpflichtet und politisch keiner demokratischen Institution verantwortlich. Ihre Aufgaben müssten auf das Ziel der Vollbeschäftigung, auf ein angemessenes Wirtschaftswachstum und auf die Sicherung des Finanzsystems erweitert werden.
Die neoliberale Grundstruktur der europäischen Währungsunion hätte sowohl das Wirtschaftswachstum in den Jahren seit Einführung des Euro gebremst, die Ungleichheit sowohl zwischen den ärmeren und den reicheren Mitgliedsstaaten als auch innerhalb der jeweiligen Gesellschaften zwischen armen und reichen Bevölkerungsschichten erhöht und die Lebenschancen vieler Jugendlicher durch hohe Arbeitslosigkeit beeinträchtigt. Das auf ideologischer Verblendung resultierende Vertrauen in die selbstregulierenden Kräfte des Marktes sei von vornherein falsch gewesen. Der Markt sei irrational, entwickle sich unvorhersehbar und sorge nicht für Konvergenz unterschiedlicher Volkswirtschaften, sondern für Divergenz.
Stiglitz belegt seine Auffassungen mit Hinweisen auf frühere Krisen in Lateinamerika oder Asien und die Fehler, die bei deren Bekämpfung begangen wurden. Er bleibt seiner eigenen, auf Keynes aufbauenden Theorie treu, ficht mit kraftvollen und deutlichen Worten für Solidarität mit den Armen und jugendlichen Arbeitslosen sowie mit den armen EU-Staaten, besonders mit Griechenland.
Auch wenn man nicht allen seinen Analysen und Vorschlägen folgt - wo findet im politischen Raum eine Auseinandersetzung mit seinen, von der modernen Volkswirtschaftslehre weitgehend geteilten Ansichten statt?
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