»Wir sind wie ein großer Ameisenhaufen«

Sechs Monate nach dem Erdbeben in Ecuador geht der Wiederaufbau in den Städten voran, auf den Dörfern kaum

  • Johannes Süßmann, Pedernales
  • Lesedauer: 6 Min.

Olga sitzt auf einem Sack Reis, um sie herum stapeln sich Äpfel, Kräuter und Salatköpfe. »Hier stand mal ein zweistöckiges Haus«, sagt die Gemüsehändlerin und deutet auf die einfache Bambuskonstruktion mit Wellblechdach über sich. Auch ihr Wohnhaus ist komplett zerstört, sie schläft jetzt im Hof, unter Plastikplanen. »Wären wir zum Zeitpunkt des Bebens zu Hause gewesen, wären wir jetzt tot«, sagt die 37-Jährige.

Olga lebt in Pedernales, jener ecuadorianischen Küstenstadt, die in den vergangenen Monaten zum Synonym für das schwere Erdbeben vom 16. April geworden ist. Beinahe jeder, der sich auf die Katastrophe mit ihren 671 Toten, ihren Zehntausenden Verletzten und Obdachlosen bezieht, spricht schlicht vom »Erdbeben von Pedernales«. Denn nahe der 40 000-Einwohner-Stadt an der Pazifikküste lag das Epizentrum des Bebens der Stärke 7,8; hier fielen im Stadtkern fast 1200 der insgesamt rund 7000 Häuser in sich zusammen, Hunderte weitere wurden stark beschädigt. Und allein hier starben nach offiziellen Angaben 174 Menschen; die tatsächliche Zahl dürfte noch weit höher liegen. Vermutlich wurden zahlreiche Leichen in andere Landesteile überführt. Leichen von Menschen, die zwar hier starben, aber nicht hier gelebt haben.

Nun, ein halbes Jahr danach, kehrt nach und nach der Alltag zurück. Klar, der Schmerz sei noch da, sagt Olga. Beim Anblick der zerlöcherten, lückenhaften Stadt. Beim Gedanken an ihre fünf gestorbenen Nichten. Die Händlerin wendet sich ab; aber nur kurz. Dann sagt sie entschlossen: »Es ist viel Bewegung in Pedernales. Es läuft langsam wieder normal.«

Tatsächlich gleicht die Stadt einer gigantischen Baustelle. Kaum ein Straßenzug, durch den keine Hammerschläge hallen, in dem keine Sägeblätter knarzen, keine Presslufthämmer gellen. Lastwagen mit Baumaterial donnern durch die Straßen, Händler bieten Obst, Fleisch, Fisch und Gemüse zum Verkauf, unentwegt knattern Motorradtaxis vorbei. So werden hier aus Wunden langsam Narben: Deutlich sichtbar zwar, aber der Schmerz vergeht.

»Wir sind hier wie ein großer Ameisenhaufen«, erzählt Froilán Cevallos. »Alle arbeiten, und alle haben immer weitergemacht.« Als der 62 Jahre alte Fischer versucht, von den Geschehnissen des 16. April zu erzählen, bricht ihm sofort die Stimme, werden seine Augen feucht. »Mir fehlen die Worte«, sagt er gepresst. Aber auf das, was die Bewohner seiner Heimatstadt nach dem Beben geleistet haben - auf das ist er sehr, sehr stolz.

Einer, der hemdsärmlig vorangeht und Enthusiasmus verbreitet, ist der Bürgermeister von Pedernales, Gabriel Alcívar. »Wir müssen positiv denken«, sagt er. »Die Menschen hier haben durchgehalten und schon sehr viel geschafft.« Von den rund 600 Personen, die die Stadt nach dem Beben verlassen haben, kehrten immer mehr zurück. Doch natürlich gebe es viele Probleme. Alleine die Wiederherstellung des Wasser- und Kanalsystems werde noch fast ein Jahr dauern und über 20 Millionen Dollar kosten.

Das größte Problem aber sei der Tourismus - neben der Fischerei die zweite große Einnahmequelle in der Region. »80 Prozent der Hotels sind eingestürzt«, sagt Alcívar, und bislang gebe es keinen Plan, wie man das wieder aufbauen könne. Es fehle Geld, auch der Regierung in der Hauptstadt Quito.

Aber immerhin, wird Alcívar gleich wieder positiv, gebe es in der Stadt wieder Handel und Geschäfte. Ein weiterer Faktor, dass Pedernales wieder auf die Beine kommt, war und ist die enorme Spendenbereitschaft der Bevölkerung. Und die Bemühungen der Zentralregierung um den Wiederaufbau. Das Bauministerium hat in Pedernales gut 1500 Gutscheine zum Wiederaufbau zerstörter Häuser verteilt, im Wert von je 10 000 Dollar. Dazu kommen rund 600 Gutscheine für Häuser, die repariert werden müssen. In den betroffenen Provinzen Manabí und Esmeraldas müssen demnach insgesamt über 14 000 Häuser wiedererrichtet werden.

Insgesamt wurden für die betroffenen Gebiete laut einem Bericht der Regierung bis Ende August knapp 900 Millionen Dollar bewilligt. Das Geld stammt aus dem Staatshaushalt, aus Krediten und aus den Einnahmen des neuen Solidaritätsgesetzes. Darin wurde wenige Wochen nach dem Beben unter anderem eine zeitweilige Erhöhung der Mehrwertsteuer von zwölf auf 14 Prozent festgelegt. Außerdem musste jeder Arbeitnehmer ab einer festgelegten Gehaltsgrenze einmalig den Verdienst eines Arbeitstages abführen.

Doch was in Pedernales und in andere große Städte wie Manta oder Portoviejo investiert wurde, fehlt andernorts. In dem Küstenort Canoa mit seinen 7500 Einwohnern starben 37 Menschen, rund die Hälfte der rund 600 Häuser ist eingestürzt. Von der Aufbruchstimmung in Pedernales ist hier kaum etwas zu spüren. Der Tourismus ist komplett eingebrochen. Die Menschen wirken passiv, resigniert.

Enrique wohnt mit acht Familienmitgliedern in einer Zeltbaracke. Insgesamt leben in dem schmutzigen Camp am Ortsrand rund 100 Familien, erzählt er. Sie überleben vor allem durch private Spenden. Und es gebe Probleme mit den Behörden: Er dürfe sein Grundstück nicht mehr bebauen, aus Sicherheitsgründen. Da vor allem die Regierung den Wiederaufbau verantwortet, wird nun offenbar verstärkt darauf geachtet, erdbebensicherer zu bauen.

In das offizielle Flüchtlingscamp des Staates, in dem gut 500 Menschen rundum versorgt werden, will Enrique nicht, wegen der strikten Regeln, wie er sagt. Tatsächlich herrscht dort Kasernenhofatmosphäre, Fotos und Gespräche seien verboten. Zudem vertrügen sich die Ein- und Ausgangszeiten nicht mit seinem Arbeitsrhythmus, fährt Enrique fort: Als Fischhändler müsse er oft vor sechs Uhr raus, da ist die Pforte der Zeltstadt noch verriegelt.

Canoa hatte sich in den vergangenen Jahren zu einem beliebten Touristenziel entwickelt, vor allem bei jungen Leuten und Surfern. Nun sind von den Dutzenden Strandbars, Hostels und Restaurants nur noch eine Handvoll in Betrieb, viele öffnen nur noch am Wochenende.

»Am Anfang war hier alles völlig chaotisch«, berichtet Ortsvorsteher Juan Quintero. Es seien keine Touristen gekommen, und auch die Einheimischen hätten Angst gehabt, weil die Erde immer wieder gebebt habe.

Über 2600 Nachbeben wurden seit April registriert, neun davon stärker als sechs auf der Richter-Skala. Zwar existiert das Gutscheinprogramm des Bauministeriums auch in Canoa; doch fehle es der Regierung in der Hauptstadt Quito schlicht am Geld, sagt Quintero. Nun soll eine nationale Kampagne für stärkere Einnahmen zugunsten von Hilfsprogrammen aufgelegt werden, damit Canoa wieder in die Lage versetzt wird, Touristen zu empfangen. Aber: »Es ist noch einiges zu tun, und es wird noch lange dauern.«

Die Peripherie komme zu kurz, bestätigt auch Karla Morales, Direktorin der Hilfsorganisation Kahre aus Ecuadors bevölkerungsreichster Stadt Guayaquil. Die Leute kümmerten sich zu wenig um die Gebiete außerhalb der größeren Städte. In Bahía, rund zwei Stunden südlich von Pedernales, sehe es aus, »als hätte die Erde erst gestern gebebt«, sagt Morales.

Ihre Organisation hat daher ein eigenes Wiederaufbauprogramm initiiert, zusammen mit der US-Freiwilligenorganisation »All Hands«. In Abstimmung mit den Behörden werden beschädigte Häuser inspiziert. Dann wird entschieden, wo abgerissen, repariert oder wieder aufgebaut wird. Alleinerziehende Frauen und Kranke haben Vorrang.

Kahre hat in den vergangenen Monaten knapp 5000 Tonnen Hilfsgüter von privaten Spendern an die Küste transportiert. »Die Bemühungen dürfen nicht nachlassen«, appelliert Morales. Vor allem Zivilgesellschaft und Privatunternehmen müssten die Probleme im Erdbebengebiet als ihre eigenen wahrnehmen. »Was hier passiert ist, ist nicht nach ein paar Monaten wieder gut. Das dauert Jahre.«

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