Wo bleibt der Wohlfahrtsstaat 4.0?
Studie: Wenn Digitalisierung auf Austeritätspolitik trifft, droht die Vertiefung gesellschaftlicher Spaltungen
Autos parken selbstständig ein und in den Schulen werden Tafeln durch Smartboards ersetzt. Im Alltag lässt sich der technologische Fortschritt kaum ignorieren. Die politische Diskussion über Chancen und Risiken der Industrie 4.0 mutet dagegen für viele abstrakt an. Ob die Digitalisierung das Leben der Menschen verbessern oder soziale Ungleichheiten verschärfen wird, hängt laut einem Team von Sozialwissenschaftlern in hohem Maße davon ab, auf welches wohlfahrtsstaatliche Niveau die technischen Neuerungen treffen und welche politischen Maßnahmen sie begleiten.
Die Wissenschaftler der Universität Tübingen haben im Auftrag der Friedrich Ebert Stiftung den politischen Umgang mit Digitalisierung in verschiedenen EU-Staaten erforscht. Während die langfristigen Folgen kaum prognostizierbar sind, zeigt ihre Studie, dass sich insbesondere in Ländern mit schwachen Sicherungssystemen bestehende soziale Ungleichheiten im Zuge der Digitalisierung verstärken. So wird beispielsweise Estland oft als technologischer Pionier gehandelt. Seit 2000 existiert dort ein Grundrecht auf Internetzugang, in Punkto mobilem Breitbandausbau liegt das Land europaweit auf dem dritten Platz.
Hinter solchen Metadaten verstecken sich jedoch tiefe Spaltungen. »Nach wie vor herrscht in Estland eine Kluft zwischen Arm und Reich, Jung und Alt, Stadt und Land und Esten und Nicht-Esten. Diese hat sich auf dem Weg in die Informationsgesellschaft sogar in Teilen noch manifestiert«, stellen die Forscher fest. Während sich in Großstätten gut ausgebildete Menschen tummeln und Start-ups aus dem Boden schießen, droht den Landarbeitern zunehmender gesellschaftlicher Ausschluss.
In Südeuropa sorgt der Studie zufolge die Austeritätspolitik für schlechte Voraussetzungen. Im europäischen Vergleich sind Italien und Spanien Digitalisierungsnachzügler. Zwar haben beide öffentliche Services digitalisiert und stehen auch beim mobilen Internet gut da. Dass breite Bevölkerungsschichten von einer Industrie 4.0 profitieren können, scheitert jedoch nach Ansicht der Forscher an der Sparpolitik, sowie großen Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt, die sich durch Liberalisierungsmaßnahmen wie den »Jobs Act« der Renzi-Regierung verschärfen.
In Italien existierten laut der Studie interessante Pionierprojekte, beispielsweise zu Smart Cities. Die konzentrieren sich allerdings auf die norditalienischen Großstädte. Dagegen bestehe wegen fehlender Investitionen in Bildung und Forschung die Gefahr, dass der Süden weiter abgehängt werde.
In Spanien verfügen laut Studie lediglich 54 Prozent der Menschen zwischen 16 und 74 über basale digitale Kompetenzen. Die Forscher attestieren dem Land - ähnlich wie Italien - ein doppeltes Problem. Aufgrund der Sparpolitik wird kaum in die Zukunft junger Menschen investiert, die von Digitalisierung profitieren könnten. Auf der anderen Seite gelten etwa 55 Prozent der Jobs, insbesondere gering qualifizierte, angesichts der Automatisierung als gefährdet.
Wenig überraschend: In den skandinavischen Länder hat der Staat den digitalen Wandel früh in die Hand genommen. Schon 2011 beschloss die schwedische Regierung eine Digitale Agenda, die Innovationsausgaben wuchsen bis 2014 auf 4,3 Prozent des Haushalts und gehören damit zu den höchsten in Europa. Die kommunale Ebene funktioniere in Schweden aufgrund ihrer großen Autonomie als »Innovationslabor«, so die Forscher. Und der Vize-Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes, Peter Scherrer, glaubt: »Sicher hat die etablierte Sozialpartnerschaft in Schweden dazu geführt, dass im Zuge kontroverser Entwicklungen schneller Lösungen gefunden werden.« Dennoch fürchten der Studie zufolge auch schwedische Arbeitsmarktforscher, dass sich Spaltungen verschärfen könnten. Aus dem Gewerkschaftslager kommen daher Forderungen zur Stärkung eines universellen Sozialversicherungssystems.
Während die Sozialwissenschaftler für ganz Europa höhere Bildungsinvestitionen anmahnen, schränken sie selbst ein, dass auch Qualifizierung wohl nur mittelfristig eine Lösung für den Wandel darstellen kann. Langfristig, so ihre Ansicht, »werden andere, viel breiter angelegte strukturelle Veränderungen diskutiert werden müssen, die auch eine Entkopplung der Arbeit vom Bezug von Sozialleistungen anstreben sollten.« Vielleicht also eine neue Chance für die Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen.
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