Vom Sturm gebeutelt
Thomas Mann und die Seinen: Eine Briefsammlung erzählt Familiengeschichte
Anfang 1933, mit dem Machtantritt Hitlers, ändert sich alles. Klaus Mann hat im Februar noch den Münchner Karneval genossen und sich ein letztes Mal schwer betrunken, doch nun, am 28. Februar, schreibt er der Mutter, es werde »von Tag zu Tag ärger«, der Terror sei »der zugegebene Zustand«, und wenn Heinrich, der Onkel, nicht schon weg wäre, »dann wäre er ja wohl nun mit Erich Mühsam und den anderen verhaftet worden«. Er sieht schwarz: »das geht nicht gut, das geht nicht gut, das geht keinesfalls gut; jeden Abend, den man das Radio anstellt, wird es einem immer noch klarer.« Und was denkt sein Vater, der Zauberer, darüber? Er wäre froh, wenn man es ihm erzählte.
Der Vater, seit dem 11. Februar auf einer Vorlesungsreise in Amsterdam, Brüssel und Paris, danach zur Erholung in Arosa, bleibt mit Katia in der Nähe Zürichs und wartet erst einmal ab. Tochter Erika beschwört ihn, sein Schweigen über die Vorgänge in Deutschland aufzugeben, endlich öffentlich zu erklären, »da nicht mitzumachen«. Etwas später, Mitte September 1933, ein Brief Thomas Manns an Klaus, der inzwischen in Holland das erste Heft seiner in aller Eile gegründeten Exilzeitschrift »Die Sammlung« herausgebracht hat und immer noch hofft, der Vater würde bei seinem Versprechen der Mitarbeit bleiben. Aber der pocht nur auf die »böse Lage«, in die er kam, weil sein Verleger Bermann Fischer fest damit rechnet, den zweiten Joseph-Roman in Berlin herausbringen zu können. Er selber redet sich nun ein, dass ein Erfolg dieses Buches »für die Machthaber viel ärgerlicher, ein eklatanterer Sieg über sie wäre als ein ganzer Stoß Emigranten-Polemik«.
Die Familie ist gespalten: Erika und Klaus sofort in den Reihen der Hitler-Gegner, sie als Kabarettistin, er als Herausgeber und Publizist, die Mutter in ihrem Urteil über die Nazis unmissverständlich (Katia im März 1935: »Im Inneren des Vaterlandes scheint es ja inzwischen auch immer toller zu werden«), der Vater mit Rücksicht auf den Verleger jedoch willens, seine Verachtung der neuen Herrschaft nicht laut zu bekunden. Die jüngsten der sechs Kinder, Elisabeth und Michael, schwärmen indes von einer herrlichen Autotour durch Südfrankreich, vom eisigen Meer und arabischen Teppichverkäufern. Unberührt von den politischen Ereignissen auch Monika, »das alte, dumpf-wunderliche Mönle«, wie die Mutter abfällig meint, beim Besuch in Küsnacht »völlig unbeschäftigt, die Speisekammer bemausernd (was der Schlankheit abträglich ist), teilnahmslos und unbekümmert mit bisweilen aufblitzenden, überraschenden Hintergründen«. Das »Mönle«, kurz darauf in Südfrankreich, geht in Sanary-sur-Mer spazieren, spielt ein wenig Klavier und hofft auf besseres Wetter (»die gute Bräune geht ja auch zum Teufel!«).
Die Manns, noch einmal: Zu den Büchern von Manfred Flügge und Tilmann Lahme, beide erst im vorigen Jahr erschienen, gesellt sich nun ein Siebenhundert-Seiten-Band mit einer Auswahl der Briefe, die sich die Familienmitglieder zwischen 1919 und 1981 schickten, ediert von Lahme, Holger Pils und Kerstin Klein, 199 chronologisch geordnete Schreiben von ungefähr zweitausend, die nachgewiesen sind, zwei Drittel davon noch nie publiziert, das alles umfassend und hilfreich erläutert.
Dieses Buch, ein Lesevergnügen, hat in der langen Reihe der publizierten Korrespondenzen von Thomas, Erika, Klaus oder Golo bisher gefehlt. Hier hat man ein Familienbild aus erster Hand, ein Dokument unterschiedlichster Temperamente und Anschauungen, der Gemeinsamkeiten, der Vorlieben und Divergenzen, auch frappierender Ungerechtigkeiten, die nicht ausblieben. Dabei gibt es Jahre mit vielen Briefen, und es gibt Zeiten (besonders nach dem Tod Thomas Manns im August 1955), in denen die Gesprächspausen immer länger werden. Liegt es an der Auswahl oder der Überlieferung?
Wie das Nachwort erläutert, sind die Verluste beträchtlich. Vor allem fehlen Briefe Monikas und Golos, wobei die empfindlichen Lücken nur teilweise den Zeitumständen geschuldet sind. Inge Jens hat noch, als sie in den achtziger Jahren mit der Herausgabe der Tagebücher Thomas Manns beschäftigt war, die Sendungen Klaus Manns an seinen Bruder Golo sowie Golos Schreiben an die Eltern einsehen und für ihre Anmerkungen nutzen können, inzwischen sind sie (wie auch Briefe Monikas), die im Besitz der Adoptivfamilie Golos waren, verschwunden. Dafür bringt die Sammlung erstmals Schreiben Katias an ihre Kinder (die Korrespondenz mit ihrem Mann zwischen 1920 und 1950 hat Inge Jens schon 2008 unter dem Titel »Liebes Rehherz« in München veröffentlicht). Freilich: Die Manns, das sind hier nur Thomas und die Seinen. Heinrich, der heute Ungeliebte, wird zwar gelegentlich erwähnt, bleibt aber ohne eigene Stimme.
Die Geschichte, die diese Briefe erzählen, an Wirrnissen reich, handelt von Liebe und Geld, Glück und Glanz, von Tapferkeit und Zusammenhalt, Zwist, Hader, Schmerz und Unglück, privaten Nöten und Sorgen, Literatur, Drogen, Depressionen, Krankheit, Tod und immer wieder von den Eingriffen der Politik, dramatisch vor allem in den Jahren des Zweiten Weltkriegs. »Heiner«, schreibt Erika Mann am 2. September 1939 in einem Hotel nahe Stockholm an Bruder Klaus, der nach dem Scheitern seiner Zeitschrift »Die Sammlung« in den USA weilt, »was für eine Viecherei, nicht beisammen zu hocken, jetzt; - was für eine Viecherei!«
Beinahe alle Familienmitglieder sind, wenn Hitlers Truppen Polen überrennen, in Europa: Katia, Erika und Thomas auf einer Ferienreise in der Schweiz, Holland und Schweden, Michael in England und Belgien. Golo, der noch einiges aus der Münchner Villa am Herzogpark in Sicherheit bringen kann, entkommt in letzter Minute, gemeinsam mit Heinrich Mann und den Werfels, durch die gefährliche und strapaziöse Überquerung der Pyrenäen. Michael verlässt den Kontinent erst nach einem Machtwort Katias. Monika wird im September 1940 zwanzig Stunden nach dem Untergang ihres Schiffs, das sie in die USA bringen sollte und von einem deutschen U-Boot attackiert wurde, aus dem Meer gerettet. Ihr Mann ertrinkt. »Sturm und Wellen waren so«, berichtet Erika, die sich in London um die Schwester kümmert, »dass alle Boote kippten …« Und Klaus schickt der Mutter, kaum dass er die »grauenvolle Geschichte« erfahren hat, die »traurigsten Grüße«: »Auch du tust mir sehr leid, arme Niobe. Alle Entlein so vom Sturm gebeutelt.«
Den ersten Brief nach Kriegsende, eine lange Schilderung seiner Erlebnisse in Deutschland, schickt Klaus Mann, noch in der Uniform der US-Army, am 16. Mai 1945 an den »lieben Zauberer-Vater«. Er hat einen Artikel über ein Interview mit Göring verfasst, mit der Familie Pastor Niemöllers gesprochen und in München »unser armes, verstümmeltes, geschändetes Haus« besichtigt. Er rät dem Vater dringend, nicht in dieses Deutschland zurückzukehren, sein Lebenswerk »irgendwo zwischen Pacific Palisades und Küsnacht« abzuschließen. Im Westen folgt schon bald die Debatte über die Emigration, die im Vorwurf gipfelt, das Vaterland 1933 im Stich gelassen zu haben, die Reise zu den Goethe-Feiern 1949 mit einem Bericht Katias über die Autofahrt durch Ostdeutschland und die Frage, ob es richtig war, »der dortigen Propaganda als so überaus fetter Bissen zu dienen«. Thomas Manns Kommentar in der Nachschrift: »Es ist nichts zu bereuen. Alle Besseren loben mich, weil ich es auf mich nahm.«
Der Vater liegt schon sechsundzwanzig Jahre auf dem Friedhof in Kilchberg, wenn Golo am zweiten Weihnachtsfeiertag 1981 den letzten Brief schreibt, der in diesem Band steht. Da sind fast alle tot: Klaus und Michael Mann durch Selbstmord, Erika nach einem langen Krebsleiden, auch die Mutter, die hochbetagt im April 1980 starb. Golo, nun allein in der geräumigen Villa überm Zürichsee, deren Wände gerade neu gestrichen werden, versorgt seine Schwester Elisabeth Mann-Borghese mit allerlei Nachrichten und versichert ihr: »wir denken ungefähr das Gleiche, wenn auch nicht immer und überall.« Im nächsten Satz ist die leise Wehmut nicht zu überhören: »Jedoch kommt mir die allmähliche Ausschmückung des Hauses hier ein bisschen vor, als dekorierte ich ein untergehendes Schiff.«
Die Briefe der Manns. Ein Familienporträt. Hg. von Tilmann Lahme, Holger Pils und Kerstin Klein, S. Fischer Verlag, 720 S., geb., 24,99 €.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.