Verbündet mit Einsamkeiten
Zum Tode der Schriftstellerin Ilse Aichinger
Dieser Schriftstellerin bedeutete jedes Wort ein Steg hinüber ins Schweigen. Ein langer Weg, ein Lebensweg. Immer kristalliner wurden die Texte. Flirrend verschlossen ist diese Poesie, sie wirkt, als hätten sich die Worte von selbst ihre Beziehung zueinander, ihre Tonart, ihren Rhythmus gesucht. Sprache aus dem Geschwätz befreien - größte Aufgabe in einem Zeitalter, in dem alles erzählt und niemand erhört wird. Beharrlich richtete Ilse Aichinger ihren Blick auf alltägliche Details verfehlter Schöpfung, ihre Texte intervenieren gegen Verharmlosung und primitive Einverständnisse, »keiner holt freiwillig Luft«, heißt es einmal. Positiv denken, so schrieb sie, sei das Gegenteil von Denken. »Ich kann getröstet nicht leben. Jeden Tag muss ich die Verzweiflung neu erwerben, aus der ein kleiner Mut kommen könnte.«
Ilse Aichinger schrieb Hörspiele, Szenen Erzählungen, Betrachtungen, Gedichte (»Eliza, Eliza«, »Verschenkter Rat«, »Schlechte Wörter«). Sie wurde am 1. November 1921 in Wien geboren, kurz vor der Zwillingsschwester Helga - Töchter eines Lehrers und einer Ärztin, die sich bald scheiden ließen. Die Mutter war als volljüdisch gestempelt worden, sie verlor ihre Arbeit. Die Großmutter und die Geschwister der Mutter wurden deportiert und ermordet. Ilse Aichinger überlebte mit ihrer Mutter in Wien den Krieg. Das Medizinstudium bricht sie ab, schreibt den Roman »Die größere Hoffnung«, lernt in der Gruppe 47 den Lyriker Günter Eich kennen, heiratet ihn.
Die Schriftstellerin gelangte zur Gruppe 47, da sich auch der Jude Paul Celan in dieser Dichter-Gruppe vorstellte - und angepöbelt wurde: »Der liest ja wie Goebbels.« In solcher Zeit konnte auch Aichingers erster (und letzter) Roman kein Erfolg werden: zu viel Wahrheit über jüdische Angst unter deutschen Nazis, zu subjektiv, zu überrealistisch. Günter Eich wird später formulieren, was auch Überzeugung und Antrieb der Aichinger bleibt: »verbündet sein mit allen, die sich nicht einordnen lassen, die Ketzer in Religion und Politik, die Unweisen, die Kämpfer auf verlorenem Posten, die Narren, die Untüchtigen, die Schwärmer, die Störenfriede«. Kurz: alle, die das Elend der Welt nicht vergessen können, bevorzugt dann, wenn sie, für einige unvorhergesehene Phasen, glücklich sind. »Film und Verhängnis - Blitzlichter auf ein Leben« heißen ihre höchst lebendigen Essays zum Kino, bestes literarisches Feuilleton, bei dem Betrachtung fremder Kunstwerke und Reflexion eigener Existenz zu faszinierender Ergänzung finden. Dass sie das Kino liebte, erscheint logisch: Ihre Texte sind Lobpreisungen der Flüchtigkeit, die auf der Leinwand einladend vorüberflimmert - und zugleich schlägt Kino, diese Konserve, jedem Einverständnis mit dem Tod trotzdem ein kleines Schnippchen. »Film und Verhängnis« - ein Erinnerungsbuch, dessen Titel zwei Situationen bündelt: Als der Zweite Weltkrieg beginnt, ist Ilse Aichinger gerade im Kino. Und als dieser Krieg aufhört, ist es just eine Kinokassiererin in der Wiener Josefstadt, die Nachrichten von Verwandten bringt, Nachrichten von Deportation und Ermordung. Film und Verhängnis.
Die erste selbstreflexive Notizen-Sammlung hieß: »Kleist, Moos, Fasane«. Ein hermetischer Titel, der das alte Wiener Wohnquartier zwischen Kleist-, Moos- und Fasangasse und damit eine Kindheit aufruft, die unter nazistischem Dunkel keine Chance aufs Glück hatte. Nicht mal darauf, später wenigstens das Überleben ungetrübt als Glück zu empfinden. Jenem Reiz des Vorübergehenden, das aus ihr eine beinahe fanatische Kinogängerin machte - ihm verfiel die Aichinger auch höchst vergnügt und inständig in ihrem Wiener Caféhaus, wo sie für die Wiener Zeitung »Standard« jahrelang Kolumnen schrieb (erst unter dem Titel »Schattenspiel«, dann unter der Überschrift »Unglaubwürdige Reisen«), Blättchen auf Speisekarten, Quittungen, Servietten, Zeitungsrändern. Im Assoziationsstrom der wenigen Zeilen wieder das ganze Leben; poetische Farbigkeit auf dunklem Grund. Der Drang der Texte in die Verdichtung - er folgt jener Not in den Wiener Nazijahren, täglich, stündlich auf Verschwinden eingestellt sein zu müssen und dieses Verschwindenkönnen, dieses Unentdecktbleiben als höchste Erfüllung anzusehen: » ... ach, diese Zeit im Verborgenen, die Angst, entdeckt und abtransportiert zu werden, die unendliche Unsicherheit eines jeden Tages. Kommen sie? Kommen sie? Heute?«
Der Fotograf Stefan Moses hat die Dichterin vielfach porträtiert. So viel Heiterkeit am Tisch im Wiener Caféhaus »Dehmel«. So viel kokette Lust am Zug einer Zigarette. Trotzigste Gutlaune noch auf dem Krankenbett. Sie lachte gern. Da störte Sitzen im Rollstuhl überhaupt nicht. Und dann solche Antworten! Auf die Frage, wer oder was sie hätte sein mögen: »Niemand und nichts.« Auf die Frage, was sie sich für die Zukunft wünsche, beizeiten die klare Auskunft: »Dass meine Zukunft nicht mehr zu lange dauert.« Sie hat es immer als Zumutung empfunden, dass der Mensch nicht gefragt werde, ob er auf die Welt kommen möchte. »Ich hätte es bestimmt abgelehnt.« Aber wo die Welt ihren gesetzgeberischen Ernst einbüßt, bietet sich deren Rätselhaftigkeit, deren Sinnlosigkeit auch als etwas Großartiges dar. Um es genau auszudrücken, zitierte die Aichinger gern den Aphoristiker E. M. Cioran, der meinte, seinem Wunsch nach dem Tod, so lange es in seiner Macht stünde, sogar gern das Sterben zu opfern. »Das Leben ist die Hölle, angefüllt mit Augenblicken, von denen jeder ein Wunder ist.«
Im leisen Rausch der Lethargie entstanden Aichingers Miniaturen, die insgeheim doch mit der Menschenliebe kollaborieren. Es ist bei ihrem Werk so, als könne die Brillanz eines Feuilletons dessen skeptischen Inhalt begnadigen. Ein entscheidender Satz der Autorin: »Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen.« Aichinger war keine Umherirrende in jenen flüchtigen Aufenthalten, wo bunte Wirklichkeitspartikel gegen unsere Netzhaut schießen - auf dass wir glauben mögen, es handle sich um Wahrnehmung. Nicht im Neuen öffnet sich die Welt - im Altbekannten glänzt deren Abgründigkeit. Sich an weiten Kreisen zu überschätzen, ist dieser zart-unheimlichen Schriftstellerin kein Stoff gewesen - ach, schwer und geheimnisvoll genug, in kleinen Kreisen zu überleben.
Nun ist Ilse Aichinger gestorben, am 11. November, wenige Tage nach ihrem 95. Geburtstag.
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