Die Menschen fühlen sich gegängelt
Die Sozialwissenschaftlerin Dorothee Spannagel lehnt die Sanktionskultur der Jobcenter ab, weil sie ganze Bevölkerungsgruppen stigmatisiere
Halten Sie es für sinnvoll, dass der Staat ALG-II-Bezieher so stark kontrolliert?
Tatsächlich halte ich das für wenig sinnvoll. Zum einen, weil das natürlich alle ALG-II-Bezieher erst mal unter einen Generalverdacht stellt, Betrüger zu sein, die versuchen, sich Leistungen zu erschleichen oder Vermögen zurückhalten. Diesen Generalverdacht halte ich für extrem problematisch. Er führt zu einer Stigmatisierung dieser Bevölkerungsgruppe.
Würden Sie den behördlichen Aufwand, den das Jobcenter bei den Ermittlungen betreibt, als angemessen bezeichnen?
So wie ich das sehe, nein. Dort wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Natürlich gibt es Menschen, die Sozialbetrug begehen. In diesen Fällen muss der Staat auch klarstellen: »Ihr kommt damit nicht durch.« Sein Anliegen, dagegen vorzugehen, ist völlig legitim. Aber alle unter Generalverdacht zu stellen und dann so massiv zu kontrollieren, ist meiner Meinung nach zum einen schlichtweg übertrieben. Es ist auch nicht effizient, beispielsweise was die Kosten angeht. Zum anderen macht es die Situation unter Umständen gar nicht besser, sondern bewirkt das Gegenteil. Es kann passieren, dass durch die massive Kontrolle und Gängelung überhaupt erst der Gedanke bei den Betroffenen entsteht, sich schützen zu müssen und eventuell etwas zurückzuhalten oder zu verheimlichen. Die Menschen fühlen sich gegängelt, bedrängt und in die Ecke getrieben - die Unsicherheit und Angst werden größer. Man sucht dann bewusst nach Schlupflöchern oder entwickelt eine »Denen-will-ich-es-aber-zeigen-Einstellung«. Wer wie ein Krimineller behandelt wird, verhält sich auch eher so. Wer kooperativ und freundlich behandelt wird, ist in der Regel ebenso offen. Druck erzeugt Gegendruck. Der Zwang, alles offenlegen zu müssen, weckt unter Umständen das Bedürfnis, sich doch etwas Geheimes zu bewahren.
Dorothee Spannagel ist Verteilungsexpertin und arbeitet am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf. Sie ist auch Mitglied des Wissenschaftlichen Gutachtergremiums zum 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Für »nd« sprach mit ihr Maria Jordan.
Was denken Sie über die Rechte und Pflichten, die das Jobcenter innehat - nämlich zu agieren wie eine Staatsanwaltschaft?
So mit Menschen umzugehen ist in gewisser Weise diskriminierend. Das Jobcenter praktiziert oft genug wenig von dem, was noch als eine Form von kooperativem oder wohlwollendem Umgang mit Menschen bezeichnet werden kann. Stattdessen agiert es nach dem Motto: »Wir wissen, dass du ein Betrüger bist und setzen jetzt alles daran, dich zu überführen.« Die Jobcenter verfügen über eine massive Breite von Rechten. Doch was die Pflichten angeht, gehört eines ganz klar dazu: mehr und bessere Aufklärung. Ich weiß nicht wie viele Fälle es gibt, bei denen tatsächlich das, was das Jobcenter in seinem Jargon »Sozialbetrug« nennen würde, schlichtweg deshalb passiert, weil die Leute es gar nicht so genau wussten. Weil ihnen gar nicht klar war, dass sie gegen die Regeln verstoßen. Ich glaube, dass da von der Pflichtenseite aus noch viel mehr passieren muss, was Aufklärung angeht. Rechte und Pflichten stehen nicht in einem ausgewogenen Verhältnis.
Wie sieht die Situation in anderen Ländern aus?
In Schweden beispielsweise haben wir den Fall, dass die Betroffenen wirklich alles, was sie an Vermögen haben, veräußern müssen, um Sozialhilfe empfangen zu dürfen. Das heißt konkret, dass sie zum Beispiel ihr Auto verkaufen müssen, was ja in Deutschland nicht ganz so einfach geht. Allerdings muss man dazu sagen, dass Sozialhilfe im schwedischen System wirklich das allerletzte soziale Netz ist. Da das Netz vorher aber deutlich dichter ist als in Deutschland und großzügigere Leistungen bereitstellt, sind nur sehr wenige betroffen. Hartz IV ist im Gegensatz dazu ja quasi eine Massenleistung. Aber ist man in Schweden erst mal so weit gekommen, dass man Sozialhilfe beziehen muss, dann ist man im wahrsten Sinne des Wortes wirklich arm dran.
Wie kann der Staat sich besser vor sogenanntem Sozialbetrug schützen?
Dafür muss man von mehreren Seiten ansetzen. Ein Punkt ist sicher der: Wenn man vom Staat ausreichend Leistungen bekäme und die Regelsätze, Kosten der Unterkunft et cetera so berechnet wären, dass man angemessen davon Leben kann, könnte das den Betroffenen die Angst nehmen, mit dem Geld nicht über die Runden zu kommen. Sie müssten sich dann nicht mehr gezwungen sehen, etwas beiseite zu legen und damit eventuell einen Betrug zu begehen.
Zum anderen sollten die Jobcenter den ALG-II-Beziehern mehr Spielraum lassen, wie viel sie von ihrem Vermögen in welcher Form noch behalten dürfen. Das gilt auch für ein höheres Schonvermögen bei Familienmitgliedern. Und letztendlich muss man Betroffene von staatlicher Seite aus davor schützen, zu Betrügern zu werden, weil das System so eng ist, dass sie unter Umständen keine andere Chance sehen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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