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Freundlichkeit von Fremden

Claudia Piñeiro lässt eine tragische Geschichte glücklich enden

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

»Wieder kommt mir in den Sinn, dass ein Augenblick viel dichter sein kann als alle Worte, die ihn erzählen wollen, und dass manche Augenblicke ein ganzes Leben dauern können und sich auch mit noch so vielen Worten nicht erzählen lassen.« - Diese Worte, die Claudia Piñeiro ihrer Ich-Erzählerin in den Mund legt, entsprechen der Wahrheit. Wirklichkeit ist eigentlich dichter als Literatur, nur wird sie so nicht wahrgenommen. Damit der Augenblick Prägnanz gewinnt, bedarf es einer Gemütsregung, die dauerhaft durchzuhalten im Allgemeinen kaum möglich ist, aber die Beschäftigung mit Literatur kann zumindest den Willen und die Fähigkeit dazu stärken. Denn Literatur hebt Augenblicke heraus - Claudia Piñeiro kann das besonders gut.


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* Claudia Piñeiro: Ein wenig Glück. Roman. A. d. Sp. v. Stefanie Gerhold. Unionsverlag. 220 S., geb., 22 €.


Die Argentinierin ist eine versierte Erzählerin. Es gibt Krimis von ihr, in denen Leser einen gesellschaftspolitischen Hintergrund mitdenken können. »Ein wenig Glück« ist eher in die Kategorie »Lebensdrama« einzuordnen.

Ein Unfall, bei dem Mutter und Sohn überleben, aber ein fremdes Kind stirbt: Das ist ein Albtraum - glücklicherweise selten -, aber Ähnliches kann jedem widerfahren. Was genau Mary Lohan aus dem Roman geschah, wird erst nach und nach offenbar. Auch dass sie diesen Namen erst später angenommen hat, in einem anderen Land. Sie hat ihr Äußeres verändert, niemand soll sie mehr erkennen. »Sie sind eine vom Schicksal gezeichnete Frau«, sagt der Mann, den sie dort kennenlernt und dem sie nach einiger Zeit ihre Geschichte erzählt, der Mann, der inzwischen gestorben ist, aber Vorkehrungen traf, ihr die Rückkehr an den Ort der Tragödie zu ermöglichen.

Das verspricht Spannung und wird von der Autorin auch so erzählt. Es gibt im Buch einen Text im Text, den Mary alias Marilé für ihren Sohn schreibt. Ihn hat sie damals zurückgelassen - zu seinem Besten, wie sie dachte -, und doch zu ihrem Schmerz. Als könnte sie mit diesem Schmerz für eine Schuld bezahlen, die sie nicht hatte, die ihr aber von anderen zugesprochen worden war.

Dieser Text im Text gibt Claudia Piñeiro die Möglichkeit, über das Schreiben an sich nachzudenken, das Aufrichtigkeit braucht und eigentlich mit einem Titel beginnen müsste.

Auch Federico Lauria, der inzwischen erwachsene Sohn, hat einen Text verfasst. Als Sechsjähriger hatte er den Unfall offenbar genau wahrgenommen. Mit dem Grübeln darüber wuchs sein Interesse für Geschichte. »Mich haben immer die Gründe interessiert, die zu den Ereignissen führten. In der Geschichte gibt es immer Gründe, im Leben nicht. Verstehen Sie, was ich meine?«

Da mag seine von ihm noch unerkannte Mutter insgeheim widersprechen. Gründe gab es für ihre Entscheidung schon - und auch jemanden, dem das zupass kam, wie man beim Lesen erkennt. Jemand hat von ihrem Unglück profitiert, kann aber die Hände in Unschuld waschen …

Am Anfang steht also ein unlösbarer Konflikt, der sich zu einem unabwendbaren Desaster hätte auswachsen können, zu einer Tragödie, die noch zu weiteren Todesfällen hätte führen können. Dem Leser dieses Romans wird das Erlebnis geschenkt, wie das Allerschlimms-te abgewendet werden kann - und das ist durchaus exemplarisch: Wenn die Unterstützung der Nächsten versagt, gibt es immer noch die Hoffnung auf »die Freundlichkeit von Fremden«. Diese Freundlichkeit weist über den Mechanismus von Ursache und Folge hinaus, durchbricht den Teufelskreis. In der Güte liegt die Heilung.

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