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Auf Sinnsuche im Inneren
Marica Bodrožic´ führt einen Mann ohne Gedächtnis zurück in die Realität
Wenn der Körper zur leblosen Hülle wird und dem Kopf nicht mehr gehorcht, die Hände nicht tasten und die Augen nicht sehen können - was bleibt dann noch vom Menschen? Marica Bodrožić führt die Leser in ihrem vierten Roman in die Gedankenwelt eines Mannes, dessen gesundheitlicher Zustand ihn in eine Bewusstseinssphäre zwischen Leben und Tod katapultiert. Von dort aus kann er vieles vermeintlich Reale nicht erkennen, den eigenen Geist und den der anderen jedoch durchdringt er mit scheinbar übernatürlichen Fähigkeiten.
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* Marica Bodrožic´: Das Wasser unserer Träume. Roman. Luchterhand. 280 S., geb., 22 €.
Der Protagonist weiß nicht, wer er ist. Er weiß nicht, wie er in das Krankenhauszimmer gekommen ist und wie es um ihn steht. Während Ärzte an seinem Bett bereits über die Weitergabe seiner Organe diskutieren, begeben sich seine Gedanken auf eine beeindruckende Reise. »Meine Bilderalben haben sich etwas für mich ausgedacht. Mein Innenflug ist transatlantisch, ohne je den Atlantik zu überqueren. Ich sehe von Innenoben auf die Welt … Meine Zellen fangen an zu erwachen. Sie fragen mich nicht. Sie ziehen um. Formieren sich zu summenden Kolonien. Sie beten. Die Zellen schauen nicht grammatisch bestrebt, sie sind schon der Satz von morgen.« Der Kranke kann die Gedanken der Schwestern in Farben sehen, kommuniziert, so glaubt er, jenseits von Worten und Blicken mit ihnen und kommt den Frauen, die ihn pflegen, auf diese Weise Tag für Tag näher.
Aber er weiß auch: Für immer kann er nicht in dieser Sphäre bleiben. »Ich bin in meinem Traum verankert und begreife, dass ich nur erwachen kann, wenn ich die Seiten vollständig wechsle.«
Für den Protagonisten werden philosophisch-abstrakte Fragen zur konkreten, einzigen Realität. Wie erschließt sich der Mensch die Welt? Was ist Wahrheit jenseits des Seh- und Anfassbaren? Wie viel Mensch ist der Mensch ohne seinen Körper? In poetischen Gedankenspielen sucht er Antworten, mehr durch Intuition und Bilder, denn rationales Denken, Argumente oder Theorien sind ihm ja versperrt.
»Warum will der Körper mir meinen Wunsch nicht erfüllen und mich alles sagen lassen, oder macht der Körper das nie? Und alles Selbstverständliche, was er tut, ist Teil jener magnetischen Welt, die die Vögel fliegen lässt, Teil jenes Malerpinsels, der den Marienkäfern Punkte aufmalt.«
Irgendwo zwischen Diesseits und Jenseits bewegt sich auch Bodrožićs Sprache. Ein Bild gleitet in das nächste über, Wortkreationen und assoziative Spielereien ergeben, was der Titel verspricht - einen träumerischen Monolog, der ohne konkrete Richtung dahinfließt. Erst mit der langsamen Genesung des Patienten, mit seiner Erkenntnis, dass ein Unfall ihn in diese Lage gebracht hat, beginnen Handlungsfragmente die Lyrik zu durchkreuzen.
Sprache ist für Bodrožić nicht nur in diesem Roman weit mehr als ein Werkzeug. Oft geht es in ihren Arbeiten um das Gedächtnis, den Zugang zur Welt durch Sprache. Sie selbst kam mit zehn Jahren aus Kroatien, Deutsch wurde ihre Literatursprache. Auch ihr Protagonist sinniert in seiner Unfähigkeit zu kommunizieren immer wieder über Ausdrucksmöglichkeiten. »Ich möchte bis ans Ende der Welt gehen und von ihrem Rand auf die Sprache sehen, im Anfang der Sprache trinken, einen guten Grund finden, um wieder auf die Menschenbrücke und in meinen Körper zu gelangen.«
Mit seinem langsamen Weg in die reale Welt kehren auch die Zwänge zurück in das Bewusstsein des Kranken. Seine plötzlich auftauchende Ehefrau stört die frei schwebenden Gedanken. Er spürt, dass im Kampf, seine Person und sein Leben wiederzuerlangen - diese Freiheit, seine fast metaphysische Erkenntnis, leiden wird.
Poetisch und leichtfüßig zeigt Bodrožić, wie imposant die Wege der Gedanken sind. Ohne Probleme füllen sie - auch ohne einen Körper, der sie in Handlungen übertragen kann - fast 300 Seiten. Und wie nebenbei lenkt die Autorin ihren unprätentiösen Blick nicht nur auf abstrakte Fragen, die Philosophen seit jeher umtreiben, sondern auch auf den rationalisierten Umgang der modernen Gesellschaft mit Menschen, die vermeintlich nicht an ihr teilhaben.
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