Caritas: Hartz IV muss deutlich erhöht werden
Zahl der Leistungsbezieher hat sich auf rund 975.000 verdreifacht / Jeder dritte Erwerbslose kann sich Dinge des täglichen Lebens nicht leisten
Berlin. Kurz vor der geplanten Verabschiedung der Neuregelung der Grundsicherung im Bundestag appellieren Verbände an die Bundesregierung, die Hartz-IV-Sätze deutlich zu erhöhen. »Die Regelsätze werden willkürlich und unsachgemäß berechnet und decken bei weitem nicht das soziokulturelle Existenzminimum«, sagte Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland, am Montag in Berlin. Sie sprach sich für eine Erhöhung der monatlichen Hilfen um rund 150 Euro auf knapp 560 Euro für Alleinstehende aus. Unterdessen gab das Statistische Bundesamt bekannt, dass zum Jahresende 2015 rund acht Millionen Menschen und damit 9,7 Prozent der Bevölkerung soziale Mindestsicherungsleistungen erhalten haben.
Loheide bezog sich bei ihren Forderungen auf ein von der Diakonie in Auftrag gegebenes Gutachten zur Ermittlung der Regelbedarfe. Für Paare forderte sie eine Erhöhung um 144 Euro und für Kinder je nach Altersgruppe zwischen 16 und 78 Euro. »In Deutschland leben Millionen Menschen von der Grundsicherung, also von Hartz IV oder Sozialhilfe«, sagte die Sozialexpertin. Ihr Leben sei geprägt von finanziellen Notlagen und materiellen Entbehrungen.
Auch der katholische Wohlfahrtsverband Caritas forderte eine deutliche Anhebung der Hartz-IV-Sätze. »Die Höhe muss so bestimmt werden, dass den betroffenen Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen und sozialen Leben möglich ist«, sagte Caritas-Präsident Peter Neher. Der Regelbedarf sei so auf Kante genäht, dass die Betroffenen keine Möglichkeit hätten, größere Anschaffungen zu tätigen. Eine neue Waschmaschine oder eine neue Brille könnten sich viele nicht leisten.
Die Verbände äußerten sich anlässlich einer Anhörung im Sozialausschuss des Bundestags. Derzeit beträgt die Grundsicherung für eine alleinstehende Person 404 Euro im Monat. Ab 2017 soll die Zahlung nach den Gesetzesplänen der Bundesregierung auf 409 Euro steigen. Meist geringfügige Steigerungen sind auch in den anderen Regelbedarfsstufen vorgesehen. In dieser Woche soll das Gesetz vom Bundestag verabschiedet werden.
Jeder Zehnte bekommt in Deutschland Sozialhilfe
Unterdessen ergab eine Erhebung des Statistischen Bundesamts, dass fast jeder Zehnte in Deutschland auf staatliche Unterstützung wie Sozialhilfe oder Hartz-IV-Leistungen angewiesen ist. Ende vergangenen Jahres erhielten rund acht Millionen Menschen und damit 9,7 Prozent der Bevölkerung Leistungen zur sozialen Mindestsicherung, wie das Statistische Bundesamt am Montag in Wiesbaden mitteilte. Das bedeutete erneut einen leichten Anstieg im Vergleich zum Vorjahr, als 7,4 Millionen Menschen auf solche Leistungen angewiesen waren.
Zur sozialen Mindestsicherung, mit denen der Staat den grundlegenden Lebensunterhalt der Menschen sichern will, gehören Hartz-IV-Leistungen, Sozialhilfe und Grundsicherung im Alter, aber auch Leistungen für Asylbewerber und die Kriegsopferfürsorge.
Die Zunahme im vergangenen Jahr 2015 geht demnach überwiegend auf den starken Anstieg der Bezieher von Regelleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zurück - die Zahl der Leistungsbezieher hat sich von 363.000 auf rund 975.000 nahezu verdreifacht.
Wie in den Vorjahren waren auch Ende 2015 die Menschen in den Stadtstaaten Berlin (19,4 Prozent) und Bremen (18,5 Prozent) am häufigsten auf Leistungen der sozialen Mindestsicherung angewiesen. Am geringsten war der Anteil in Bayern (5,2 Prozent) und Baden-Württemberg (6,0 Prozent).
Jeder dritte Erwerbslose zu arm für viele Alltagsgüter
Fast jeder dritte Arbeitslose kann sich in Deutschland Dinge des täglichen Lebens nicht leisten. Im vergangenen Jahr waren 30,1 Prozent der Erwerbslosen von erheblicher materieller Entbehrung betroffen, wie aus einer der Deutschen Presse-Agentur in Berlin vorliegenden Statistik hervorgeht.
Die offiziellen Zahlen zeigen, dass 2008 erst 26 Prozent der Erwerbslosen davon betroffen waren. Seit 2012 lag der Anteil stets über 30 Prozent. Die Zahlen aus der Befragung »Leben in Europa« stammen vom Statistischen Bundesamt. Die Behörde stellte die Werte auf Anfrage der Linken im Bundestag zusammen.
Erhebliche materielle Entbehrung liegt laut einer Definition der Europäischen Union vor, wenn man sich vier von neun bestimmte Gütern oder Aktivitäten nicht leisten kann. Dazu zählt, wenn man nicht rechtzeitig Miete, Wasser und Strom zahlen kann, wenn man die Wohnung nicht immer ausreichend heizen oder unerwartete Ausgaben oft nicht decken kann. Es zählt dazu, wenn man sich nicht jeden zweiten Tage eine Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder Gleichwertigem leisten kann, sich keinen zumindest einwöchigen Urlaub im Jahr, kein Auto, keine Waschmaschine, keinen Fernseher oder kein Telefon leisten kann.
Der europäische Vergleich zeigt: Unter erheblicher materieller Entbehrung leiden im Durchschnitt aller EU-Mitgliedsländer weniger Arbeitslose als in Deutschland. Der Anteil liegt im EU-Schnitt bei einem Viertel (25,2 Prozent im Jahr 2015). Agenturen/nd
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