Eribon: »Die Linke ist schuld am Aufstieg der Rechten«
Der französische Soziologe Didier Eribon über das Verschwinden der Arbeiterklasse in der öffentlichen Debatte
Kann die extrem rechte Marine Le Pen bei der französischen Präsidentschaftswahl gewinnen?
Man kann nie wissen. Aber es scheint, als könnte eher François Fillon gewinnen, der konservative Kandidat. Umfragen sehen ihn bei 65 Prozent.
In Frankreich ist Didier Eribon insbesondere für seine Arbeiten zu dem Philosophen Michel Foucault bekannt. Er unterrichtet als Professor für Soziologie an der Universität Amiens. 2016 erschien die deutschen Übersetzung seiner Autobiografie »Rückkehr nach Reims« in Deutschland. Darin verknüpft er die Erzählung seiner eigenen Geschichte mit soziologischen Betrachtungen über sein Herkunftsmilieu: die Arbeiterklasse. Seine Analysen zur Wählerschaft der Front National werden in Deutschland als Erklärung für das Erstarken der AfD debattiert. Elsa Koester sprach mit ihm über das Verhältnis der Linken zur Arbeiterklasse, soziale Bewegungen und Momente der Revolution. Übersetzung aus dem Französischen von Franziska Albrecht.
Werden Sie Fillon wählen, wenn es zu einer Stichwahl zwischen ihm und Le Pen kommt?
Auf keinen Fall werde ich für Fillon stimmen! Er ist ein extremistischer Katholik, ein harter Rechter. Er steht hinter den Mobilisierungen gegen die »Ehe für alle«. Sollte Fillon gewinnen, wird es in Frankreich große soziale Revolten geben. Dass die Franzosen vielleicht vor diese Wahl gestellt werden, ist die Schuld der Parti Socialiste, das Ergebnis der sozialdemokratischen Politik der letzten 30 Jahre. Nun will Fillon 500 000 Beamte aus dem öffentlichen Dienst entlassen – ausgerechnet im Schulsystem!
Warum ist Ihnen das Schulsystem so wichtig?
Es ist das Herz einer Gesellschaft. Es produziert und reproduziert soziale Klassen, indem es die Kinder der Arbeiterklasse hinauswirft. Studien zeigen, dass die Wahl der extrem rechten Front National mit dem Bildungsgrad einher geht: In Nordfrankreich haben sehr viele keinen Schulabschluss. Auf der Karte sind diese Gebiete politisch schwarz.
Auch Sie kommen aus der Arbeiterklasse, haben den Sprung an die Universität aber geschafft. Sie schämten sich jedoch für Ihre Herkunft. Warum?
In Paris habe ich viel Verachtung für die Arbeiterklasse gespürt – auch im linken Milieu. »Morgen kommt die Putzfrau«, wurde gesagt. Meine Mutter arbeitete als Putzfrau.
Dass Sie sich für Ihre Familie geschämt haben, hat jetzt halb Europa gelesen. Was sagt Ihre Mutter dazu?
Sie war nicht sehr glücklich darüber. Inzwischen schäme ich mich dafür, diese Scham empfunden zu haben.
Hat Ihre Mutter nicht verstanden, worum es Ihnen ging?
Meine Mutter liest eigentlich keine Bücher, schon gar keine soziologischen. Für sie war es eine Anschuldigung. Sie hat mir gesagt: »Du sagst, dass wir arm waren. Aber dein Vater und ich haben hart gearbeitet und ihr hattet jeden Tag etwas zu essen.« Das stimmt. Aber wir waren sehr arm. Meine Mutter antwortete: »Ja, aber das war nicht meine Schuld!« Das weiß ich natürlich, aber genau darum geht es ja: Es gibt Menschen, die arbeiten sehr hart, und können sich trotzdem nur gerade so ihr tägliches Brot leisten.
Wieso war es für Sie leichter, offen mit ihrer Homosexualität umzugehen als mit der sozialen Herkunft?
Für meine sexuelle Identität habe ich mich bis zum Alter von 21 Jahren auch geschämt. Der Moment meines Coming-outs war mit meinem Umzug von Reims nach Paris verbunden – in eine Großstadt mit einem offeneren Milieu. Um meine Sexualität leben zu können, musste ich das Milieu wechseln.
Tun das alle Homosexuellen in der Arbeiterklasse?
Wahrscheinlich nicht. Aber Hunderte Schwule und Lesben haben mir geschrieben, dass sie genau das Gleiche erlebt haben.
Ihre Analyse der Arbeiterklasse hat in Deutschland einen Hype ausgelöst. Warum ist das 2016 so eine bahnbrechende Entdeckung?
Die Arbeiterklasse wurde aus dem politischen Vokabular der Linken entfernt. An ihre Stelle trat eine breite Mittelschicht. In den 1980er Jahren formten sich Kreise von Intellektuellen, Finanzjongleuren, Geschäftsleuten, Linken und Konservativen, Denkfabriken zwischen Universitäten und der Wirtschaft. Sie behaupteten, es gebe keine sozialen Klassen mehr, nur autonome und für ihr eigenes Leben verantwortliche Individuen.
Welches Interesse stand dahinter?
Wenn es nur noch für sich selbst verantwortliche Individuen gibt, kann man den Abbau sozialer Sicherungssysteme rechtfertigen: Fragen der Sozialversicherung und des Rentensystems wurden so gelöst. Und die Konservativ-Linken haben sich von dieser Dynamik mitreißen lassen.
Ist diese linke Ignoranz gegenüber der Arbeiterklasse schuld am Aufstieg der Rechten?
Natürlich: Wenn die Linke die Arbeiterklasse verneint, dann sucht diese sich einen neuen Repräsentanten.
Wer ist die Arbeiterklasse?
Arbeitslose und Arbeiter in prekären Arbeitsverhältnissen. Dazu gehören bestimmte Lebensweisen, die Einkommenshöhe, kulturelle Praktiken – wie kleide ich mich, wie spreche ich. Fragen des Klassenhabitus.
Was sucht die Arbeiterklasse bei der Front National? Materielle Verbesserungen? Oder Anerkennung?
Es geht ihnen wohl um beides. Ab dem Moment, an dem sie nicht mehr in der politischen und öffentlichen Wahrnehmung vorkamen, sich niemand mehr um ihre Sehnsüchte und Anliegen, nicht einmal mehr um ihre Existenz kümmerte, haben ganze Berufsgruppen darum gekämpft, in der politischen Debatte sichtbar zu werden. Sie haben sich den Rechtsextremen zugewandt – und sich dadurch verändert.
Inwiefern haben sich die Gruppen verändert?
Eine politische Partei ist eine Instanz, die einen Blick auf die sozialen Gegebenheiten durch eine bestimmte Brille vermittelt. Bei mir in der Familie wurde immer von einem WIR gesprochen: wir die Arbeiterklasse, wir die Linken, wir sind gegen Ausbeutung und gegen unsere Ausbeuter. Wenn dieses Vokabular verschwindet, dann wird es durch den Blick einer anderen Partei ersetzt.
Welchen?
Das WIR des Front National ist nicht mehr die Arbeiterklasse, die von der Bourgeoisie ausgebeutet wird, sondern das WIR der Franzosen, die gegen die Eliten aufbegehren, die der Migration und damit Migranten Tür und Tor öffnen.
Wie kann die Linke den Kontakt zur Arbeiterklasse wieder aufbauen?
Die Arbeiterklasse kann sich erst wieder als solche konstituieren, wenn ihre Arbeits- und Lebensweise wahrgenommen wird. Das ist Aufgabe der Linken. Wir brauchen eine Partei, die mit den Gewerkschaften zusammenarbeitet, die Streikbewegungen unterstützt.
Das tun die Sozialdemokraten in Frankreich nicht gerade...
Nein. Die linke Regierung hat im Sommer einen Gesetzentwurf durchgebracht, der das gesamte Arbeitsrecht zerstört. Als es von den Gewerkschaften organisierte Massendemonstrationen gab, antwortete die Regierung mit Tränengas und massiver Polizeigewalt. Das Parlament wurde dabei durch einen Sonderparagrafen ausgehebelt.
Waren Sie auch auf der Straße?
Ich habe an mehreren Demonstrationen teilgenommen und viel Tränengas abbekommen. Ich kann mir vorstellen, dass ein Teil der Demonstranten bei den nächsten Wahlen entweder gar nicht teilnimmt oder der Front National ihre Stimme gibt.
In der deutschen Linkspartei wird diskutiert, wie die Arbeiterklasse besser erreicht werden kann. Einige überlegen, ob man den Feminismus weniger stark in den Mittelpunkt stellen sollte.
Die Arbeiterklasse besteht ja nicht nur aus Männern. Arbeiterinnen interessieren sich durchaus für die Rechte der Frauen: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, das Recht auf Abtreibung. Außerdem ist es kein Widerspruch, die Sehnsüchte der Arbeiterklasse in den politischen Raum zu holen und sich gleichzeitig für die Umwelt, für Frauenrechte und für LGBT-Rechte einzusetzen. Wenn aber die Linke vom Feminismus spricht und dabei die Interessen der Arbeiterklasse fallen lässt, ist das problematisch.
Sie sind also für den Pluralismus der Kämpfe?
Ich glaube nicht an die Idee der Revolution. Ich glaube auch nicht, dass es die Arbeiterklasse gibt, die dazu berufen wäre, eine große historische Mission zu erfüllen. Herbert Marcuse wies darauf hin, dass soziale Bewegungen zu bestimmten Zeiten für die Veränderung der Gesellschaft wichtiger sein können als die Arbeiter: Schwarze Bürgerrechtsbewebungen, feministische oder studentische Bewegungen.
Muss die Linke diese Kämpfe einen?
Wenn man diese Bewegungen unter einem gemeinsamen, globalen Konzept des Kampfes vereinigen möchte, besteht immer das Risiko einer Hierarchisierung der Kämpfe – ähnlich wie bei den französischen Kommunisten, die in den 1950er Jahren die Forderungen und Kämpfe in vorrangige und zweitrangige Kämpfe einteilten. Die zweitrangigen Kämpfe mussten also immer auf die Revolution und die Durchsetzung des Sozialismus warten…
Also lieber nicht einen?
Es geht nicht darum, sich bei allen Kämpfen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen. Jede Bewegung hat ihre eigene Zeitigkeit. Wenn sie zusammen kommen, entfalten sie große Dynamik. Wie im Mai 68: Verschiedene Bewegungen zur gleichen Zeit entwickelten eine unbeschreibliche politische Energie. Für mich ist Politik eine Art Chaos.
In Deutschland wird über eine rot-rot-grüne Regierung diskutiert. Verbinden Sie mit solch einem Projekt Hoffnung?
Ich begrüße jede linke Initiative, die dem Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen in Europa etwas entgegen setzt. Man darf sich nur nicht die Illusion machen, dass dadurch alle Probleme gelöst werden. Es ist immer problematisch, wenn blassrosa Sozialdemokraten, dunkelrote Sozialisten und Grüne eine Koalition eingehen. Darin steckt viel Konfliktpotenzial. Dennoch bietet eine Koalition, die sich der ökonomischen und sozialen Probleme annimmt, eine Chance für Europa.
Welche Politik müsste Rot-Rot-Grün dafür machen?
Mir erscheint es wichtig, dass die sozialen Rechte im Parlament durchgesetzt werden: Das Recht auf Gesundheitsversorgung, auf Bildung, auf Rente, auf eine angemessene Wohnung, auf Arbeitslosenversicherung, auf öffentlichen Dienst und Grundversorgung. Alle diese Sachen sind wichtig und für ein linkes Denken konstituierend.
Podemos in Spanien versucht sich auch an dieser Herausforderung. Dennoch sehen Sie die Partei kritisch.
Auch wenn ich den Nationalismus und linken Populismus von Podemos überhaupt nicht leiden kann: Es ist ihnen gelungen, etwas Neues zu schaffen. Sie arbeiten mit verschiedenen Bewegungen zusammen. Initiativen für bezahlbaren Wohnraum und für Flüchtlinge halten Einzug in die Rathäuser.
Was haben Sie gegen Linkspopulismus?
Das Vokabular von Podemos halte ich für sehr gefährlich: Das Vaterland, das Volk gegen die Eliten – das ist das Vokabular Le Pens. Doch der Nationalismus ist zum Scheitern verurteilt. Angesichts der Situation in Europa sollten wir einen internationalistischen Ansatz der sozialen Bewegungen bevorzugen. Für ein kulturelles, ein linkes Europa.
Warum sollte ein linker Populismus, der auf die 99 Prozent setzt, dem entgegen stehen?
Dieses famose eine Prozent gegen die restlichen 99 verwischt die großen Klassenunterschiede, die es innerhalb der 99 Prozent gibt.
Ich finde, Sie sind da zu streng. Damit soll doch eine Identität geschaffen werden, mit der gemeinsam gekämpft werden kann.
Sicherlich. Die linke Philosophin Chantal Mouffe hat einen strategischen Populismus vorgeschlagen, das verstehe ich schon. Doch Diskurse zirkulieren nicht im luftleeren Raum, sie finden Gehör. Wenn vom Volk gegen die Eliten die Rede ist, provoziert das Gefühle, eine Stimmung, die nicht mehr beherrschbar ist – und auch nach rechts gehen kann. Die anschlussfähig ist für Le Pen.
Aber wenn wir zum Volk auch Geflüchtete zählen, Frauen, Männer, Transgender – dann ist das doch ein anderer Diskurs.
Ja. Aber vielleicht kommen wir dann wieder da hin, wovon Sie vorhin gesprochen haben: Dass manche Männer dann doch nur von der weißen Arbeiterklasse sprechen wollen. Die Definition, die wir vom Volk haben, kann uns entgleiten.
Ich höre aus Ihren Worten Angst vor der Zukunft in Europa heraus. Der Schriftsteller Srećko Horvath spricht von einer präfaschistischen Epoche.
Es ist, als zögen am politischen Horizont dunkle Wolken auf. Ich hoffe sehr, dass Horvath sich täuscht.
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