Niemals nur Zuschauerin
Maria Antonia Gonzalez Cabezas half als überzeugte Sozialistin beim Aufbau des kubanischen Gesundheitssystems, war Weggefährtin Salvador Allendes, saß als politisch Inhaftierte in Chile im Gefängnis und floh später in die DDR, wo sie eine neue Heimat fand. Von Jérôme Lombard
Chile, Viña del Mar, 11. September 1973. Der Putsch des Militärs gegen die demokratisch gewählte Regierung unter dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende ist bereits in vollem Gange, als Maria Antonia Gonzalez Cabezas sich auf den Weg zur Arbeit macht. An einem normalen Wochentag ist es eine gute Stunde mit dem Bus von ihrer Heimatstadt Viña del Mar bis zur Universität in der Hafenmetropole Valparaíso. Doch an diesem spätsommerlichen Septembermorgen ist nichts normal. Die Busse fahren nicht. Kaum ein Zivilist ist auf der Straße. An jeder großen Kreuzung sind Soldaten mit Maschinenpistolen positioniert. Mit einem flauen Gefühl im Magen macht sich die Wirtschaftsprofessorin zu Fuß auf den Weg. Es ist ein beschwerlicher Marsch über gebirgiges Terrain. Nach zwei Stunden erreicht sie das Mathematische Institut. Zu ihrem Statistikseminar sind keine Studenten gekommen. Einheiten der Kriegsmarine halten die Institutsgebäude besetzt. »Ab diesem Moment war mir klar: Das Militär hatte gegen unsere Regierung geputscht. Den konservativen Generälen waren die sozialen Maßnahmen unter Präsident Allende lange schon ein Dorn im Auge gewesen«, sagt Maria Antonia und nippt an ihrer Tasse Früchtetee.
Es ist ein grauer Nachmittag in Berlin im Jahr 2016. An die Fensterscheiben prasseln unaufhörlich dicke Regentropfen. Maria Antonia erzählt, als sie gegen Mitternacht wieder zu Hause in Viña del Mar ankommt, laufen die Nachrichten über die Bombardierung des Präsidentenpalasts La Moneda in Santiago, den Tod Salvador Allendes und die Machtübernahme Augusto Pinochets bereits über alle Rundfunkanstalten. In dieser Nacht hat sie kein Auge zugetan. Wenn Maria Antonia mit ihrer ruhigen Stimme von den Ereignissen des 11. September 1973 und den heißen politischen Zeiten der 1960er und 1970er Jahre erzählt, stockt einem der Atem. An dem kleinen, runden Esstisch im Wohnzimmer der kuschelig eingerichteten Wohnung in der dritten Etage eines Mietshauses in der Charlottenburger Leibnizstraße erwacht die turbulente Zeit des Kalten Kriegs wieder zum Leben. Gegenüber sitzt eine Frau, die schon viele Schlachten geschlagen hat. Eine Zeitzeugin, deren Lebensgeschichte wie ein Kriminalroman klingt.
Maria Antonia Gonzales Cabezas, Jahrgang 1931, war dabei, als sich die chilenische Junta an die Macht putschte. Sie war an vorderster Front dabei, als die Arbeiter in der Kupferindustrie für die Nationalisierung ihrer Betriebe protestierten. Als Mitglied der Kommunistischen Partei Chiles (PCCh) organisierte sie die Streikaktionen gegen das ungerechte Lohnsystem mit, das die Angestellten in amerikanischen Dollars entlohnte und die Arbeiter in chilenischen Pesos. Sie war dabei, als Salvador Allende 1970 als erster demokratisch gewählter Sozialist in Lateinamerika das Präsidentenamt bekleidete. »Allende war ein überaus freundlicher Mann. Er war sehr gesprächig und scherzte gern herum. Um die Menschen in Valparaíso hat er sich sehr gekümmert«, erzählt Maria Antonia.
An eine persönliche Begegnung mit Allende erinnert sich die heute 85-Jährige besonders gerne zurück. Ende der 1960er Jahre arbeitete sie als Statistikerin in der Abteilung für pathologische Anatomie im Krankenhaus von Valparaíso, ebenso wie der studierte Arzt Allende. In der Mittagspause trafen sich die beiden zufällig auf dem Flur. Man kam ins Plaudern. »Wir haben über seine Kandidatur als Senator und den Aufbau des Sozialismus in Kuba gesprochen. Wir waren uns einig, dass mit dem Sieg der Revolution unserer kubanischen Brüder und Schwestern eine neue Zeit in Lateinamerika angebrochen ist«, erinnert sie sich. Bereits als Schülerin an einem katholischen Jesuitengymnasium in Viña del Mar hatte sich Maria Antonia für den Sozialismus interessiert. Ihr Vater, ein gelernter Zimmermann und Möbelrestaurator, war bereits viele Jahre Mitglied der Kommunistischen Partei, bevor auch Maria Antonia als Studentin in die PCCh eintrat. Unter ihren Verwandten galten die beiden als schwarze Schafe. Die Familie verstand sich als großbürgerlich und katholisch-konservativ. Für den Sozialismus und das jüdische Familienerbe als sephardische »Conversos«-Juden, die mit Einführung der Inquisition offiziell zum Katholizismus konvertierten und im Falle der Familie Gonzales Cabezas im 18. Jahrhundert von Spanien nach Chile ausgewandert waren, war kein Platz.
Als Maria Antonia im Frühjahr 1962 während eines Abendessens der Familie ankündigte, sie wolle der Einladung Fidel Castros nach freiwilliger Aufbauarbeit im revolutionären Kuba folgen, drohte der Großvater mit Enterbung. Doch nichts konnte die Idealistin stoppen: Zusammen mit 4000 chilenischen Freiwilligen reiste die damals 30-Jährige nach Kuba. Sie bekam eine Stelle im Gesundheitsministerium zugeteilt. Zu ihren ersten Aufgaben gehörte die Initiierung einer Kampagne zur Bekämpfung von Malaria. Fidel Castro und Ché Guevara lernte sie während einer Beratung kennen. »Ché brauchte dringend ausgebildete Statistiker für sein Industrieministerium. Ich bin dann in sein Ministerium gewechselt und habe bei der Ausbildung neuer Statistiker geholfen«, erzählt Maria Antonia und lächelt. Draußen im herbstlichen Berlin dämmert es. Drinnen steht die Welt an einem der kritischsten Momente des 20. Jahrhunderts: Der Raketenkrise in den Oktobertagen des Jahres 1962. Es war eine überaus angespannte Atmosphäre in Havanna, blickt Maria Antonia zurück. Viele der Freiwilligen verließen in diesen Tagen das Land. Sie selber wollte bleiben, die Revolution verteidigen, wie sie sagt. In Jeeps transportierte sie mit ihren Kollegen vom Gesundheitsministerium Blutkonserven in den Süden der Insel, um sie dort vor eventuellen Angriffen auf die Hauptstadt in Sicherheit zu bringen. Es war das feste Vertrauen einer Idealistin in die Menschheit, das sie damals zum Weitermachen anspornte. Dieses Vertrauen ist genauso wie ihre Überzeugung, dass der Sozialismus ein hehres politisches Ziel ist, bis heute ungebrochen.
Nur einmal, am 5. Oktober 1973, verlor Maria Antonia fast ihren Glauben an das Gute im Menschen. Frühmorgens fuhr ein schwarzer Jeep vor ihrem Haus in Viña del Mar vor. Soldaten sprangen heraus. »Sofort mitkommen!« Gefesselt brachte man sie in die alte Schwimmhalle von Valparaíso, einem später als Folterkammer berüchtigten Ort. Wenn sie sich an den kalten Lauf der Pistole erinnert, der ihr fest an die Schläfe gedrückt wurde, läuft es ihr noch heute kalt den Rücken herunter. »Alle von der Unidad Popular, dem sozialistisch-kommunistischen Bündnis Allendes, galten für die chilenische Sicherheitspolizei DINA als potenziell gefährlich. Von mir wollten sie Informationen über Mitglieder der Kommunistischen Partei und Pläne zum Widerstand gegen die Diktatur. Ich habe ihnen nicht ein Wort gesagt«, erzählt Maria Antonia stolz.
Ohne Anklage und Prozess verschleppte man sie in ein Frauengefängnis. Ein langes, schweres Jahr verbrachte Maria Antonia als politische Gefangene in der Haftanstalt. Ihre damals fünfjährige Tochter Celia sperrte man mit ihr zusammen ein. Unerwartet erreichte sie dann ein Befehl von ganz oben: Sie müsse das Land verlassen. So schnell wie möglich. Als Professorin stand ihr Name auf den Gefangenenlisten. Man präsentierte ihr Einladungen für eine Emigration nach Peru und in die Dominikanische Republik. Sie war unentschlossen. Konnte der lange Arm der DINA nicht bis in alle Länder Lateinamerikas reichen? Ein paar Tage später kam die Erlösung: Eine Einladung der DDR-Regierung. Ein Land, in das damals viele chilenische Flüchtlinge emigrierten. Weit genug weg von der Heimat, die zu einem gefährlichen Ort für Menschen wie Maria Antonia geworden war.
Am 14. November 1974, einem grauen Herbsttag, landete sie mit der kleinen Celia erschöpft und glücklich zugleich in Schönefeld. Die beiden wurden zunächst mit anderen chilenischen Familien im Schloss Friedensburg in Leutenberg in der Nähe von Zwickau untergebracht. Im Januar des nächsten Jahres zogen Maria Antonia und Celia in die eigenen vier Wände nach Potsdam. Drei Jahre arbeite sie in der Blutspendestelle der Stadt. Später am Physiologischen Institut der Berliner Humboldt-Universität. Es war eine gute Zeit. Dann kam die Wende. »Ich war gerade zur Kur, als die Nachricht kam, dass die Mauer gefallen ist. Ich konnte es zunächst gar nicht glauben«, erklärt Maria Antonia mit Blick auf das Jahr 1989.
In der vereinten Bundesrepublik wurde sie pensioniert. Ein Ausreiseantrag nach Chile wurde von der chilenischen Botschaft abgelehnt. Sie sei zu alt und könne nicht eigenständig für ihren Lebensunterhalt aufkommen. Für die Kämpferin Maria Antonia, die immer für sich selbst gesorgt hatte, eine Schmach. Sie blieb. Ihre alte Heimat Chile besuchte sie mit einem Touristenvisum. Mitte der 1990er Jahre wurde Maria Antonia deutsche Staatsbürgerin. Sie zog nach Charlottenburg. In die Nähe von Celia, die inzwischen erwachsen geworden war und verheiratet ist. Sie gründete die Gabriela-Mistral-Gesellschaft, die sich für die Entschädigung der Opfer der chilenischen Militärdiktatur einsetzt. In Charlottenburg fand Maria Antonia auch zu ihren jüdischen Wurzeln zurück. »Viele Mitglieder der PCCh waren Juden. Von meiner Oma wusste ich seit frühester Kindheit, dass auch wir trotz offizieller Zugehörigkeit zur katholischen Kirche jüdischer Abstammung sind. In Viña del Mar gab es damals keine Synagoge und kein Gemeindeleben«, erklärt Maria Antonia.
Auch wenn die Religion in ihrem Leben nie eine große Rolle gespielt hat, war sie sich ihres Judentums stets bewusst. Ihr deutscher Schwiegersohn hat sich in Spanien auf Stammbaumsuche begeben. Celia lebt heute offen jüdisch. Gemeinsam mit ihr, ihren zwei Enkeln und ihrem Schwiegersohn geht Maria Antonia häufig in die Synagoge. Sie ist eine passionierte Sängerin. Neben synagogalen Liedern singt sie heute am liebsten revolutionäre Balladen aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Inzwischen ist es dunkel geworden. Der Regen hat endlich aufgehört. Maria Antonia könnte noch viele Anekdoten erzählen.
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