Die Dauerlüge »Kein NSU-Bezug«

Unfähigkeit reift zur Ermittlungsmethode: erneut Datenträger durch Zufall entdeckt

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Thomas Richter war für das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) 18 Jahre lang eine »Top-Quelle« in der rechtsextremen Szene. Deckname »Corelli«. 2012 wurde er enttarnt, der Geheimdienst versteckte seinen Spitzel, stattete ihn mit einer neuen Identität aus. Kurz vor einer geplanten Vernehmung zu einer CD mit der Aufschrift NSU/NSDAP, die er Jahre zuvor seinen Auftraggebern übergeben hatte, wurde er von seinem Vermieter tot in seiner Wohnung aufgefunden. Das war am 7. April 2014.

»Schon« 2015 und dann noch einmal 2016 tauchten dann beim Verfassungsschutz verschiedene Handys sowie diverse deutsche und niederländische SIM-Karten auf, die dem V-Mann gehörten. Zufällig. Die Auswertungen durch das Bundeskriminalamt (BKA) dauerten eine gefühlte Ewigkeit und brachten - nichts. Zwar fand man rund 200 Kontaktdaten, darunter zahlreiche Daten wichtiger Frontleute rechtsextremistischer Bewegungen sowie mehrere Tausend Fotos. Doch alles hatte »keinen NSU-Bezug«. Behauptet das BKA noch immer.

Am Donnerstag musste die Bundeskriminalpolizei dann erneut eine »Panne« eingestehen. Offenbar zum ersten Mal hat ein Beamter in eine Laptop-Tasche aus »Corellis« Nachlass geschaut und siehe da: Darin fanden sich zwei bislang unbeachtete Speicherkarten. Darauf gespeichert waren wiederum zahlreiche Fotos, doch sie haben - man ahnt es - »keinen NSU-Bezug«.

Abgesehen davon, dass die Auswertungsmethode des BKA, das im Auftrag des Generalbundesanwaltes die Ermittlungen in Sachen NSU führt, Zweifel rechtfertigt - es stellt sich auch die Frage: Was ist der NSU?

Die Befragung von drei Zeugen aus Hessen, die der Bundestagsuntersuchungsausschuss am Donnerstag vorgeladen hatte, machte deutlich, dass die Ermittler allenfalls die Mitglieder des NSU-Kerntrios Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe auf dem Radar haben. Bestenfalls die vier mit Zschäpe in München angeklagten mutmaßlichen Helfer werden noch der rechtsextremistischen Gruppierung zugeordnet. Dass es darüber hinaus ein weites, auch ins Ausland reichendes Netzwerk gegeben hat, das den drei Neonazis aus Jena das Untertauchen und die zehn von ihnen verübten Morde sowie die Bombenanschläge erst ermöglichte, hat der Generalbundesanwalt den Ermittlern beizeiten aus dem Hirn getrieben.

Am 4. April 2006 wurde in Kassel Halit Yozgat in seinem Internetcafé erschossen. Es war der neunte und vermutlich letzte Fall in der sogenannten Ceská­Mordserie, die dem NSU zugerechnet wird. Doch erst nachdem die Terrortruppe im November 2011 in Eisenach und Zwickau aufgeflogen war, ging dem zuständigen Staatsanwalt Götz Wied ein Licht auf. Die Hypothese, dass hinter der Tat rassistische Motive stehen könnten, gab es wohl, allein, es habe keinen »Anfasser« gegeben, der die Ermittlungen in Richtung Rechtsterrorismus gelenkt hätte. Wie auch, wenn man nicht danach sucht und sich vor dem Landesamt für Verfassungsschutz in die Hosen macht?!

Das stand nämlich im Fokus, nachdem herausgekommen war, dass der V-Mann-Führer Andreas Temme zur Tatzeit am Tatort war. Dass der sich nicht als Zeuge gemeldet hatte, dass der zumindest in seiner Jugend »rechts angehaucht« war und ganze Passagen aus Hitlers »Mein Kampf« abschrieb, dass er Waffen mochte und sich mit Rockern herumtrieb - das alles und noch mehr reichte nicht, um ihn wie jeden anderen Tatverdächtigen zu behandeln. Beispielsweise mit Haftbefehl.

So blauäugig wie Staatsanwalt Wied ermittelte auch BKA-Hauptkommissar Michael Stahl - allerdings Jahre später, als die Täterschaft des NSU schon offenbar war. Temme war allein schon wegen seiner damaligen Geheimdienststellung über jeden Verdacht erhaben. Eine Eintragung in Temmes Kalender reichte dem BKA als Alibi dafür, dass Temme nicht - wie ein Zeuge meinte - am Tag des Bombenanschlages in Köln vor Ort war. Niemand sah auch die Notwendigkeit, sich etwas genauer um den V-Mann Benjamin Gärtner zu kümmern, der von Temme geführt wurde. Das BKA ließ sich mit zehn oder 15 inhaltsdünnen Deckblattmeldungen abspeisen, die Temme nach Treffs mit Gärtner angefertigt hatte.

Warum er sich überhaupt mit dem Mann traf, der ja nach wiederholten Aussagen des Verfassungsschutzes bereits 2003 aus der Neonazi-Szene ausgestiegen ist, blieb offen - bis die Obfrau der Linksfraktion Petra Pau am Donnerstag ein Foto aus dem Jahre 2004 präsentierte, das den Spitzel inmitten der Nazi-Kameradschaft Kassel zeigt. Fast mühelos lassen sich ähnliche Verbindungen in den Folgejahren nachweisen. Sie reichen - vermittelt über weitere Neonazis, mit denen der V-Mann Kontakt hatte - möglicherweise nach Sachsen, Thüringen und sogar nach Österreich.

Dass Temme neben Gärtner - zumindest vertretungsweise - noch einen zweiten V-Mann aus dem Neonazi-Spektrum geführt hat, kam erst Anfang dieser Woche zur Sprache und muss geheim bleiben. Ja und? Sicher hat auch das »keinen NSU-Bezug«.

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