Himmel und Hölle in Irsee
Im Allgäu treffen Kultur und die Schrecken der NS-Verbrechen in einem Dorf zusammen
Der Weg in den Himmel führte durch die Höll. Denn Höll, so hieß einst im gottesfürchtigen Volksmund die finstere Waldschlucht nahe des allgäuischen Benediktinerklosters Irsee bei Kaufbeuren. Wer sie als Mönch mutig durchschritten hatte, den erwartete die Offenbarung: Eine barocke weiße Kirche mit zwei hohen Türmen sowie überbordendem Innenleben. Auch das 1186 gegründete Klostergeviert, das sich direkt anschließt, beeindruckt bis heute mit einem prächtig bemalten und lichtdurchfluteten Treppenhaus.
Doch nur ein paar Schritte hinter der Kirche holt den Besucher erneut die Hölle ein. Ein Denkmal erinnert an Hunderte Kinder, die eben hier - in der 1849 im vormaligen Reichsstift eröffneten »Kreis-Irren-Anstalt« - durch Naziärzte ermordet wurden. Denn das Kloster war eine der Stätten, in denen das Hitlerregime sein »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vollstreckte. Allein in Irsee starben 1200 Menschen, meist durch überdosierte Medikamente oder systematisches Aushungern.
Anstaltsleiter Dr. Valentin Faltlhauser entwickelte dazu eine vitamin- und fettlose »Ernährung«, an der die Patienten nach spätestens sechs Wochen zugrunde gingen. Noch am 29. Mai 1945, drei Wochen nach Kriegsende, wurde in Irsee das letzte Kind ermordet. Eines dieser Opfer war der 14-jährige Ernst Lossa aus Augsburg: Seinem Leben und Tod widmet sich der erst im Herbst angelaufene Film »Nebel im August«. Er starb 1944 in Irsee durch zwei Giftspritzen.
Noch bis 1972 bestand in Irsee jene Abteilung für psychisch Kranke weiter, ehe 1981 in der zwischenzeitlich teuer restaurierten Anlage ein Tagungs- und Bildungszentrum eröffnete. Seither sind im Kloster die Schwabenakademie, ein Tagungshotel sowie das Bildungswerk des Bayerischen Bezirkstags zu Hause. Regelmäßig treffen sich hier etwa Psychiater und Neurologen zu Fortbildungen und alljährlich im Januar die bayrischen SPD-Landtagsabgeordneten zu ihrer Winterklausur.
Doch auch die grausame Geschichte wird thematisiert. Im ehemaligen Leichenhaus, der Prosektur, erinnert eine Gedenkstätte an die Opfer. Ein Triptychon der Münchener Künstlerin Beate Passow greift dazu auf Fotografien der Ermordeten zurück und konfrontiert diese mit dem Briefwechsel zwischen Faltlhauser - im Film dargestellt von Sebastian Koch - und weiteren NS-Medizinern. Nach 1945 war der Chefarzt zu drei Jahren Haft verurteilt worden, die er jedoch nie antrat: Bayerns Justizminister begnadigte ihn 1954 wegen Haftunfähigkeit. Auch auf dem Klosterfriedhof finden sich noch Grabstellen ermordeter Patienten.
Doch im Grunde lebt die verträumte Gemarkung am Rande des Allgäuer Voralpenlandes eher von den Segnungen der Neuzeit. Zum sehenswerten Ensemble - in den 1990er Jahren als schönstes Dorf Deutschland geehrt - gehören ein uriger Hotelgasthof, eine Museumsbrauerei sowie Bayerns älteste Kleinkunstbühne. Kulturbürger treffen sich im barocken Umfeld zu Orgelvespern, Lesungen und seit 2013 zum neuen Musikfestival »Tonspuren«. Es nimmt gezielt auf ein anderes Kapitel Irseer Geschichte Bezug: Im 18. Jahrhundert galt das Kloster weit über Schwaben hinaus als ein Zentrum von Musik und Naturwissenschaft.
Jeden Freitag lockt zudem ein unkonventioneller Biomarkt in und um den Stadel beim Gasthaus »Zur Post«. Ihn betreibt ein rühriger Verein unter Leitung von Pensionsbetreiberin Ursula Schuster. Alles was er feilbietet, stammt aus ökologischer Produktion und artgerechter regionaler Tierhaltung und ist zumeist selbst gefertigt. Stets ihren eigenen Stand haben hier dann auch Kinder einer »Schule der Phantasie« an der Irseer Grundschule. In alternativen Kursen und Workshops bringen hier Lehrer und ambitionierte Eltern dem Nachwuchs Alternativen gegen »emotionale Verarmung und Vereinsamung sowie Verkümmerung der kreativen Anlagen und Fähigkeiten« nahe. Eine Vielzahl der daraus entstandenen Werke und Installationen prägt inzwischen das Dorfbild mit.
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