Union nimmt Flüchtlinge ins Visier
Einzelne Politiker von CDU und CSU drohen nach Anschlag in Berlin Asylsuchenden, die keine Papiere haben
Für Horst Seehofer war schnell klar, wer für den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Montagabend in Berlin-Charlottenburg verantwortlich war. Ohne die Ermittlungsergebnisse der Polizei abzuwarten oder mit betroffenen Personen gesprochen zu haben, verkündete der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident 14 Stunden nach der Tat, dass »wir unsere gesamte Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik überdenken und neu justieren müssen«. Dies sei man »den Opfern, den Betroffenen und der gesamten Bevölkerung« schuldig. Nach Ansicht von Seehofer hat sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) trotz zahlreicher Verschärfungen des Asylrechts noch nicht weit genug in seine Richtung bewegt.
Die CSU wird nun ihre Forderungen in der Flüchtlingspolitik ausarbeiten. Diese sollen offensichtlich im Rahmen der Neujahrsklausur präsentiert werden, die 2017 nicht in Wildbad Kreuth, sondern im ebenfalls in Oberbayern gelegenen Kloster Seeon stattfinden wird. Dann dürfte es nicht mehr nur um eine Obergrenze für Schutzsuchende gehen, sondern auch um schärfere Kontrollen.
Einige CDU-Politiker reagierten verärgert auf Seehofers Schnellschüsse. Parteivize Armin Laschet warf ihm »voreilige Schlussfolgerungen« vor. Von Regierungssprecher Steffen Seibert und aus dem Bundesinnenministerium hieß es mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen, es sei zu früh, Schlüsse aus dem Anschlag zu ziehen.
Andere Christdemokraten warteten hingegen mit konkreten Forderungen auf. Der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Klaus Bouillon, forderte in der »Rheinischen Post«, dass Flüchtlinge ohne Papiere ihren Asylanspruch verlieren sollten, wenn sie nicht an der Feststellung ihrer Identität mitwirken. »Es gibt zahlreiche Flüchtlinge, von denen wir nicht wissen, wo sie herkommen und wie sie heißen«, sagte der saarländische Ressortchef von der CDU. Sie würden jetzt von den Ländern überprüft. Oft sei die Identität gefälscht, die Pässe seien verschwunden, und dann weigerten sich die Betreffenden, an der Überprüfung mitzuwirken. Kein Wort verlor Bouillon hingegen darüber, dass seine Maßnahmen vor allem Menschen treffen würden, die hierzulande Schutz vor Terror und Verfolgung suchen. Es ist nämlich nicht selten, dass sie auf der Flucht zum eigenen Schutz ihre Pässe vernichten.
Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) zeigte ebenfalls kein Interesse an diesen Problemen. Er sprach von »offenkundigen Defiziten im Verfahren«. Änderungsbedarf sieht sein Amtskollege Bouillon auch beim Trennungsgebot zwischen Polizei und Nachrichtendiensten. Zudem forderte er bessere Zugriffsmöglichkeiten der Behörden auf Messenger-Dienste wie Whatsapp.
Die LINKE-Innenpolitikerin Ulla Jelpke warf Politikern von CDU und CSU vor, sie würden versuchen, »den furchtbaren Anschlag zum Schüren flüchtlingsfeindlicher Ressentiments zu nutzen und sich gegenseitig mit unsinnigen Scharfmacherforderungen übertrumpfen«.
In der SPD war zunächst Zurückhaltung angesagt. »Niemand sollte versuchen, dieses abscheuliche Verbrechen für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Wer es dennoch tut, entlarvt sich selbst als verantwortungslos«, sagte Justizminister Heiko Maas. Allerdings werden sich die Sozialdemokraten den Forderungen ihres großen Koalitionspartners nach Gesetzesverschärfungen wohl kaum entziehen können. Gleiches gilt für mögliche Einsätze der Bundeswehr im Inneren, die von Politikern der Union favorisiert werden. Teile der SPD haben sich hierzu skeptisch geäußert. Trotzdem haben sich die sozialdemokratischen Innenminister in den Ländern nicht gegen entsprechende Vorbereitungen gewehrt. Gemeinsame Anti-Terror-Übungen von Bundeswehr und Polizei sollen im Februar stattfinden. Nach dem Grundgesetz ist ein entsprechender Einsatz der Bundeswehr möglich, wenn etwa eine »drohende Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes« besteht. Dann darf die Armee »Aufständische« bekämpfen und zivile Einrichtungen wie Bahnhöfe und Schulen schützen, wenn die Polizei dazu nicht mehr in der Lage ist.
Fraglich ist, ob es für die Bürger dann noch leicht sein würde, Polizisten von Soldaten zu unterscheiden, wenn die Koalition den Forderungen der Bundespolizeigewerkschaft nachkommen sollte. Deren Führung hätte gegen technische Hilfe der Bundeswehr nichts einzuwenden und will selber aufgerüstet werden. »Unsere Gewehre können Terroristen mit Schutzwesten nicht mehr aufhalten. Die Spezialeinheiten haben dazu andere Waffen, aber die sind nicht im Streifendienst verfügbar. Wir fordern, dass in jeden Streifenwagen schusssichere Helme aus Titan gehören und Schutzwesten, die auch einem Kalaschnikow-Beschuss standhalten. Wir brauchen gepanzerte Fahrzeuge, die schnell bereit stehen für solche Lagen«, sagte Gewerkschaftschef Ernst Walter dem Fernsehsender Phoenix.
Im Sommer war es schon in München, Ansbach und Würzburg zu Anschlägen und Amokläufen mit unterschiedlichen Hintergründen gekommen. Darauf reagierte die Bundespolitik mit einem »Sicherheitspaket«, das am Mittwoch vom Kabinett auf den Weg gebracht wurde. Die Gesetzentwürfe sehen etwa Bodycams für Bundespolizisten sowie Lesesysteme für Kennzeichen von Fahrzeugen vor. Zudem ist insbesondere an öffentlichen Orten wie Sportstätten und Einkaufszentren eine verstärkte Videoüberwachung geplant. Dazu soll das Datenschutzgesetz so geändert werden, dass Sicherheitsbelange bei der Entscheidung über die Überwachung stärker als bisher berücksichtigt werden. Auch die »intelligente« Überwachung, die etwa Gesichter oder Kennzeichen automatisch erkennt, soll ausgeweitet werden.
Linksfraktionsvize Frank Tempel beurteilte den Ausbau der Videoüberwachung skeptisch. »Wir werden das genau analysieren, ich glaube aber nicht, dass es sinnvoll ist«, sagte er dem Sender RBB. Auch potenzielle Täter könnten sich darauf einstellen.
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