Unausschlagbar, unannehmbar
100 Jahre nach der Oktoberrevolution - die Linke und das Erbe Lenins
In der Nacht vom 7. zum 8. November 1917 (Oktobertage nach dem alten russischen Kalender), als klar war, dass die Provisorische Regierung in Petrograd gestürzt wurde, sagte Lenin zu Trotzki auf deutsch: »Da kann einem schwindlig werden.« Das große Ziel war erreicht: Die Arbeiter, so sahen es die Bolschewiki, übernahmen in einem der einflussreichsten Staaten dieser Welt die Macht. Lenin soll im Schnee getanzt haben, als sich diese Macht länger als die 71 Tage der Pariser Kommune gehalten hatte. Am Ende wurden es 74 Jahre, bis die Rote Fahne auf den Türmen des Kreml wieder eingezogen wurde.
Die Politik der Bolschewiki des Oktober 1917 spaltete die Linke Russlands, dann Europas und schließlich der Welt. Die Nachwirkungen sind bis heute spürbar. Das Leninsche Erbe kann nicht ausgeschlagen, aber es kann auch nicht angenommen werden.
Zunächst einmal sei gesagt, warum auf dieses Erbe auf keinen Fall verzichtet werden kann. Drei Gründe seien genannt.
Erstens: Die russische Revolution von 1917, beginnend im Februar in Petrograd, war eine Revolution, die von großen Teilen der Arbeiter und Soldaten Russlands getragen und verteidigt wurde. Es ging um den radikalen Bruch mit einer Politik der herrschenden Eliten des Zarenreichs, die den Bauern das Land, den Arbeiterinnen und Arbeitern elementare soziale Rechte, den Bürgerinnen und Bürgern die Freiheit und den unterdrückten Völkern des Reiches das Recht auf nationale Selbstbestimmung vorenthielt. Es ging um den Bruch mit dem imperialistischen Krieg. Und als klar wurde, dass die Provisorische Regierung weder willens noch fähig war, auch nur eine der beiden wichtigsten Forderungen des Volkes, Frieden und Land, einzulösen, entstand die Alternative: Herrschaft der Bolschewiki unter Lenin oder Herrschaft des Militärs unter General Kornilow. Und die Arbeiter und Soldaten trafen ihre Wahl: Sie wandten sich den Bolschewiki zu. Lenin und die Bolschewiki bewiesen, dass es möglich ist, die Grundfragen der Zeit mit aller Entschiedenheit von links politisch anzugehen und siegreich eine Volksrevolution zu führen.
Zweitens: Mit dem bolschewistisch geführten Aufstand des Oktober kamen Kräfte an die Macht, die den Sozialismus todernst nahmen, was man von den rechten Sozialdemokraten in Deutschland ein Jahr später nicht sagen kann. Als Lenin erkannte, dass die realistische Chance bestand, in Russland eine sozialistische Revolution durchzuführen, im Herbst 1916, begann er ein erneutes intensives Studium der Werke von Marx und Engels. Er eignete sich ihre Vorstellungen von Sozialismus und Kommunismus, vom Staat nach der Revolution und der Diktatur des Proletariats an. Alles dies ist nachzulesen in seinen Konspekten »Marxismus und Staat« und seiner Schrift »Staat und Revolution«. Es ist seine Interpretation ihrer Werke, die er zur Geltung bringt, einseitig zweifelsohne. Aber er entnahm ihnen eine große Vision. Der linke Menschewik Suchanov erinnert sich so an Lenins Rede im April 1917: »Uns … erschien vor unseren Augen plötzlich ein strahlendes, blendendes fremdartiges Licht, das uns für alles blind machte, was bis dahin unser Leben ausgemacht hatte.« Es war diese ungeheuer anziehende Vision des Sozialismus der Freien und Gleichen auf der Basis der Volksherrschaft, ohne die die Bolschewiki den furchtbaren Bürgerkrieg von 1918 bis 1922 nicht gewonnen hätten.
Drittens: Lenin erwies sich 1917 als Stratege auf der Höhe der Zeit. Er konnte das Erbe von fast 25 Jahren Aufbau einer in den Massen Russlands verankerten Arbeiterpartei einbringen. Er hatte im August 1914 als einer der ersten und wenigen den konsequenten Bruch mit aller Politik der sogenannten Vaterlandsverteidigung vollzogen und wie Liebknecht »Krieg dem Kriege« verkündet. Er hatte sich dialektische Grundlagen einer Politik des Bruchs in Zeiten der Krise angeeignet und beim Studium der Literatur zum Imperialismus die Schwächen dieses Systems gerade in der nationalen Frage klarer erkannt als fast alle anderen. Er formulierte die wirksamsten Losungen zur richtigen Zeit und konnte in harten demokratischen Auseinandersetzungen seine eigene Partei immer wieder überzeugen. Wer linke Strategie in Zeiten der existenziellen Krise erlernen will, muss nicht zuletzt bei Lenin in die Schule gehen.
Aber es gilt auch, dass das Leninsche Erbe keinesfalls angenommen werden kann. Der Leninismus als geistig-politisches System darf keine Zukunft in der emanzipatorischen Linken haben. Auch dafür seien drei Gründe genannt.
Erstens: Die Dekrete der Sowjetmacht, geschrieben von Lenin, betrafen zunächst die Frage des Bodens für die Bauern und das Angebot des Friedens an die Völker Europas. Weniger bekannt ist, dass es zu den allerersten Schritten der Regierung gehörte, die Pressefreiheit einzuschränken. Der Rat der Volkskommissare nahm am dritten Tag seiner Existenz ein ebenfalls von Lenin verfasstes entsprechendes Dekret an. Es handle sich bei den verbotenen Zeitungen um die Presse der vermögenden Klasse, die über die Druckereien verfüge und ihre eigenen Privilegien als Freiheit ausgebe. Bald würde die »vollste Freiheit« wieder hergestellt werden. In wenigen Jahren jedoch war die Meinungsfreiheit unterdrückt. Die »volkseigenen« Druckereien standen dem Volk keineswegs frei zur Verfügung. Eine Staatspartei entschied unkontrolliert, was gedruckt werden durfte und was nicht. Wenig später, im Januar 1918, erfolgte die Auflösung der Konstituierenden Versammlung, in den Monaten danach verloren die Sowjets ihren demokratischen Charakter und hörten auf, Selbstorganisationsformen der Arbeiter und Bauern zu sein. Das Fraktionsverbot von 1921 unterwarf die Partei einer nicht mehr frei gewählten Führung. Von nun an konnten die politischen Widersprüche nur noch bewaffnet ausgetragen werden oder wurden schlicht unterdrückt.
Zweitens: Es ist die große Vision der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts, vor allem auch von Marx und Engels, dass die Befreiung der Arbeiter das Werk der Arbeiter selbst sein muss - als revolutionäre Praxis der Veränderung der Umstände und der Selbstveränderung. Eine solche Befreiung aber verlangt die Erkämpfung und Bewahrung der Freiheiten der Versammlung, der Selbstorganisation, der demokratischen Artikulation, des gewaltfreien Widerstands. In dem so radikaldemokratischen Werk Lenins »Staat und Revolution«, geschrieben vor der Machtübernahme, findet sich, bezogen auf den »absterbenden Staat« des Übergangs nach der Revolution, der verhängnisvolle, völlig undialektische Satz: »und es ist klar, dass es dort, wo es Unterdrückung, wo es Gewalt gibt, keine Freiheit, keine Demokratie gibt«. Demokratie und Staatlichkeit werden als absoluter Gegensatz gedacht. Nun hatte Lenin selbst in der gleichen Schrift erkannt, dass auch der Staat der Diktatur des Proletariats Staat sei und wie jeder Staat Gewalt ausübe - nicht zuletzt gegenüber den Arbeitern zur Durchsetzung des »bürgerlichen« Rechts auf Bezahlung nach gleicher Leistung. Den genannten Satz zu Ende gedacht, wird jeder Staat, auch der Staat der siegreichen Arbeiter, zu einem Staat ohne jede Freiheit, ohne jede Demokratie. Und tatsächlich haben die Bolschewiki nach dem Sieg im Bürgerkrieg genau diese Unterdrückung von Freiheit und Demokratie gegenüber den Arbeiterinnen und Arbeitern, den Bäuerinnen und Bauern, ganz zu schweigen von der Intelligenz und bürgerlichen Kreisen, systematisiert und vollendet.
Drittens: Die Vorstellung von sozialistischem Eigentum als Eigentum aller wurde durch die Bolschewiki so umgesetzt, dass »alle« nur gemeinsam, nur noch in Gestalt des Staates, nur noch durch zentralisierte Verfügung Eigentümer werden. Marxens Vorstellung im »Kapital«, dass dies zugleich das »individuelle Eigentum« auf der Grundlage »der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel« sein müsse, blieb uneingelöst. Sozialistisches Eigentum ist aber ein prozessierendes Widerspruchsverhältnis - zwischen Individuen, Gruppen und der Gesamtgesellschaft. Wird sozialistisches Eigentum auf den gesamtgesellschaftlichen Pol reduziert, zerstört es die Möglichkeiten freier Entwicklung jeder und jedes Einzelnen als Bedingung der freien solidarischen Entwicklung aller.
Das Erbe der Bolschewiki und Lenins kann einen schwindlig machen, wenn man sich nicht seinen Widersprüchen stellt. Aber nur wer mit den Widersprüchen emanzipatorischer Bewegungen umzugehen weiß, wer Wege ihrer solidarischen Bearbeitung findet, wird am Ende linke Politik auf der Höhe der eigenen Zeit betreiben können - von Lenin lernend und aus der Kritik an Lenin lernend.
Der Philosoph Michael Brief arbeitet beim Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
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