Mit Rundschreiben Nr. 11 an alle argentinischen Diplomaten vom 12. Juli 1938, wenige Monate nach der Annexion Österreichs, wurden diese überall auf der Welt angewiesen, »allen Personen ein Visum - auch ein Touristen- oder Transitvisum - zu verweigern, von denen anzunehmen ist, dass sie ihr Herkunftsland verlassen haben oder verlassen wollen, weil sie als unerwünschte Personen angesehen werden, oder des Landes verwiesen wurden, ganz unabhängig vom Grund ihrer Ausweisung«. Wer damit gemeint war, war klar: die von Hitler bedrohten Juden! Als erste Maßnahme wurde durch das Dekret 8972 die Bestimmung aufgehoben, welches die Erste-Klasse-Passagiere bisher von der Visa-Pflicht ausgenommen hatte. Vorher war man der Ansicht, dass Immigranten nur zweiter oder dritter Klasse reisen. Es galt, die Einreise von Juden und Kommunisten zu verhindern, die dieses Schlupfloch mitunter nutzten.
Uki Goñi, ein argentinischer Historiker, dessen Buch »Odessa« nun ins Deutsche übersetzt wurde und dessen Großvater zur damaligen Zeit Konsul in Wien, Genua und Bolivien war, streift kurz die jüdische Emigration nach Argentinien und beschreibt danach minutiös die Flucht der Nazis nach Argentinien. Goñis umfassende, manchmal etwas zu detaillierte Untersuchung zeichnet die »Rattenlinien« nach, über die Tausende von Nazis und Vertreter anderer europäischer Kollaborationsregimes nach Lateinamerika entkommen konnten.
Der argentinische Chef der Einwanderungsbehörde war ein extremer Antisemit, der meinte, dass es notwendig sei »Selektionskriterien zu entwickeln, um Immigranten auszuwählen, die sich nicht wie Zysten« einnisten. Wen er damit meinte beschrieb er 1946 in seinem Buch: Juden »wohnen wie eine Zyste im Körper des Volkes, inmitten dessen sie sich niederlassen, um es auszubeuten«. Sein »Selektionskriterium« bedeutete schlicht: Juden und Kommunisten nein, Nazis ja. Wie Motten vom Licht wurden Nazis von Argentinien angezogen.
Uki Goñi beschreibt, inwieweit die Schweiz und der Vatikan willige Helfer waren. Er berichtet von der Nordroute, über die beispielsweise ein gechartertes Segelschiff aus Schweden voller Nazis an Bord flüchtete, das 1948 umjubelt in Buenos Aires ankam. Nach Argentinien flüchtete auch der »dänische Mengele«, der an einer »künstlichen männlichen Sexualdrüse zur endgültigen Lösung der Homosexuellenfrage« forschte. Goñi beschreibt die Flucht der französischen, belgischen, slowakischen, kroatischen Kollaborateure sowie einzelner Deutscher, wie Mengele, Eichmann und Priebke. Aus ganz Europa emigrierten verurteilte Nazi-Verbrecher nach Argentinien. Argentinien war Sammelbecken für Geldwäscher und Kriegsverbrecher, die bei ihrer Flucht auf die großzügige Unterstützung des Vatikan und der katholischen Kirche Argentiniens rechnen konnten. Strippenzieher im Hintergrund war damals schon Juan Perón, der später an die Macht kam. Die Fluchthelfer, die 1947 in Perons Regierungspalast ein- und ausgingen, waren samt und sonders im Ausland zum Tode verurteilte Kriegsverbrecher. Gegen Ende seines Lebens enthüllte er die Motive für seine Rettung der Nazi-Kriegsverbrecher. Er meinte: »In Nürnberg geschah damals etwas, was ich persönlich als eine Schande und als eine finstere Lektion für die Zukunft der Menschheit ansah. Und so ging es nicht nur mir, sondern dem ganzen argentinischen Volk. Ich kam zu der Gewissheit, dass auch die Argentinier den Nürnberger Prozess als eine Schande ansahen, der Sieger unwürdig, die sich benahmen, als wären sie keine. Nun wurde uns klar, dass sie verdient gehabt hätten, den Krieg zu verlieren. Wie viele Male bin ich in meinen Reden auf Nürnberg zu sprechen gekommen, das die größte Ungeheuerlichkeit darstellt, welche die Geschichte niemals vergessen wird!«
Ein düsteres, lesenswertes Kapitel der Geschichte.
Uki Goñi: Odessa. Die wahre Geschichte - Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher. Verlag Assoziation-A, Berlin/Hamburg 2006. 400 S., geb., 22 EUR.