Grenzen der Gerechtigkeit
Sigmar Gabriel gibt seinem Nachfolger Martin Schulz programmatische Ratschläge
Ein Wechsel in der SPD-Spitze ist selten so freundschaftlich verlaufen wie an diesem Sonntag. Bei seiner Abschiedsrede auf einem außerordentlichen Bundesparteitag in Berlin wirkt der scheidende Parteichef Sigmar Gabriel erleichtert, dass ihm diese Bürde abgenommen wird. Im Bundestagswahlkampf wäre der in der Bevölkerung wenig beliebte Niedersachse ohne Chance geblieben. Seinen Nachfolger lobt Gabriel dagegen in den höchsten Tönen. »Der Aufbruch der SPD hat einen Namen: Martin Schulz«, ruft er den etwa 600 Delegierten entgegen. Zumindest in den Umfragen ist es Schulz in wenigen Wochen gelungen, die Sozialdemokraten an die lange Zeit klar führende Union von Kanzlerin Angela Merkel heranzuführen.
Gabriel redet deutlich länger, als es die Parteitagsregie geplant hatte. Für das Wahlprogramm, das von einem Parteitag im Juni verabschiedet werden soll, gibt er noch einige Tipps. Aus seiner Sicht sollten die Sozialdemokraten weniger versprechen, dann aber auch alles halten. Das ist ein Hinweis darauf, dass das Umverteilungsprogramm der SPD von 2013, das unter anderem einen höheren Spitzensteuersatz und die Wiederbelebung der Vermögensteuer enthielt, abgespeckt werden soll. »Die SPD ist keine reine Verteilungspartei«, meint Gabriel. Sie müsse auch die Unternehmer als Partner sehen. Diese seien nicht »der Klassenfeind«.
Hoffnungen setzt der deutsche Außenminister auch auf den französischen Präsidentschaftskandidaten und ehemaligen Sozialdemokraten Emmanuel Macron, obwohl der frühere Investmentbanker und Minister für eine wirtschaftsliberale Politik steht, die etwa durch eine Flexibilisierung der 35-Stunden-Woche und des Renteneintrittsalters zulasten von vielen Arbeitern und Angestellten gehen würde. »Mit Macron in Frankreich und Schulz in Deutschland könnten wir in Europa einiges ändern«, frohlockt Gabriel.
Im Rückblick auf seine siebeneinhalb Jahre lange Amtszeit erinnert Gabriel auch an innerparteiliche Konflikte. Zuweilen hätten er und seine Partei es sich nicht leicht gemacht. Gabriel hatte mit dem linken Parteiflügel über die Vorratsdatenspeicherung und das Freihandelsabkommen CETA gestritten. In beiden Fällen gingen der Parteichef und seine Unterstützer als Sieger hervor.
Nun hoffen viele Sozialdemokraten darauf, dass Schulz die Partei zusammenführen wird. Zum Abschied überreicht er seinem Freund Gabriel eine Lithografie mit dem Konterfei von August Bebel. Die Erinnerung an die alte Arbeiterpartei, deren Vertreter vom Kaiserreich unterdrückt und später von den Nazis verfolgt wurden, darf bei keinem SPD-Parteitag fehlen. Wer die Sozialdemokraten anführt, betont, noch immer in dieser Tradition zu stehen. Das gilt zwar nicht mehr für den Marxismus, aber immerhin noch für den Kampf gegen rechte Strömungen.
In seiner Rede nimmt Schulz unter anderem die AfD, die französische Front National und Pegida aufs Korn. Die »Alternative für Deutschland« nennt er wegen der geschichtsrevisionistischen Äußerungen des Thüringer Parteivorsitzenden Björn Höcke eine »Schande für Deutschland«. Allerdings ist dieser Satz wie viele andere von Schulz bereits bei seinen Reden in den vergangenen Wochen zu hören gewesen, als er durch das Land getingelt ist, um die Menschen von sich zu überzeugen.
Deutlich wird einmal mehr, dass der frühere Präsident des Europäischen Parlaments sich inhaltlich an der Union, dem Koalitionspartner der SPD, abarbeiten will. So kritisiert er die Konservativen dafür, dass mit ihnen derzeit kein gleicher Lohn für gleiche Arbeit möglich ist. »Auch das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen muss aufhören«, fordert Schulz. Dies wolle er gemeinsam mit den Gewerkschaften durchsetzen. Deren Spitzenvertreter wie etwa DGB-Chef Reiner Hoffmann und der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske sitzen beim Parteitag weit vorne.
Hinter Schulz sind auf einer kleinen Tribüne Männer und Frauen unterschiedlichen Alters zu sehen. So soll offensichtlich vor allem auf den Fernsehbildern vom Parteitag eine Nähe von Schulz zu den Menschen vermittelt werden. Dazu müssen natürlich auch seine Aussagen passen. »Jeder einzelne Mensch muss respektiert werden«, lautet einer der Schlüsselsätze des neuen SPD-Spitzenmanns. Seine Forderungen nach Änderungen an der neoliberalen Agenda 2010 will er jedoch nicht in erster Linie als Wohltaten, sondern als ökonomisch vernünftige Entscheidungen verstanden wissen. Er wiederholt sein Anliegen, dass mehr für die Qualifizierung von Erwerbslosen getan werden müsse. »Denn davon hängt die Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands ab.« Aus diesem Grund müsse auch die Bildung von der Kita an gebührenfrei sein. Zudem kündigt Schulz an, dass Familienministerin Manuela Schwesig bald ein Modell für die Familienarbeitszeit vorlegen wird.
Allerdings haben die Reformvorhaben von Schulz Grenzen. Erst kürzlich lehnte er kritische Worte zu den Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger ab. Ähnlich wie er äußert sich am Rande des Parteitags Arbeitsministerin Andrea Nahles.
Obwohl Schulz nicht zum linken Flügel der Partei gehört, wird er auch von deren Vertretern unterstützt. »Wir Jusos stehen hinter Martin«, erklärt die Vorsitzende des Jugendverbands Johanna Uekermann kurz vor der Wahl des neuen Vorsitzenden auf dem Podium. Letztlich ist der Jubel im Saal groß, als bekannt gegeben wird, dass nur drei Stimmen ungültig sind und ansonsten alle Delegierten für Schulz gestimmt haben. Er ist nun Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat.
Der CDU fällt nicht viel ein, wie sie den Höhenflug der SPD stoppen können. Vor der Parteitagshalle demonstrieren Mitglieder der Jungen Union auf einem Frachtschiff auf der Spree mit Transparenten. Auf einem steht: »Hey Gottkanzler! Wenn Du übers Wasser laufen kannst, komm rüber!« Attacken auf diesem Niveau werden Schulz im Wahlkampf wohl eher helfen als schaden.
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