Hitzige Anleihen im Winterkrieg
Finnland rüstet auf und wird von der NATO innigst umworben
Die Videos, die die finnische Armeeführung bei YouTube anbietet, werden immer härter. Harte Musik, viel Technik und hoch motivierte Soldaten, die als Einzelkämpfer und in der Gruppe ihr Handwerk beherrschen. Diese propagandistische Aufrüstung geht mit einer materiellen einher. Das kleine Finnland zeigt sich entschlossen, seine rund 1300 Kilometer lange Grenze gegen mögliche russische Veränderungsgelüste zu sichern. Absurd? Nicht aus Sicht jedes zweiten Finnen. Wie die Regierungen in den baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland ist die in Helsinki beunruhigt über Russlands Krim-Annektion und Moskaus Unterstützung der Separatisten in der Ukraine.
So wie Estland, Lettland und Litauen hat auch Finnland im Verhältnis zum großen Nachbarn Tragisches erlitten. Am 1. September 1939, dem Tag, an dem Nazideutschland Polen überfiel, proklamierte Helsinki seine Unabhängigkeit im heraufziehenden Schlachtgetümmel der großen Mächte. Doch das nützte dem kleinen Land, das von 1808 bis zur Oktoberrevolution 1917 Teil des russischen Reiches war, wenig. Wie die drei baltischen Staaten sah es sich 1939 durch sowjetische Gebietsansprüche bedrängt. Finnland weigerte sich; am 30. November 1939 überquerten mehrere Divisionen der Roten Armee die Grenze. Der sogenannte Winterkrieg, dem weitere Waffengänge folgten, begann.
Es gibt in Finnland unweit der heutigen Grenze zu Russland eine Museumsstraße. Sie führt zu einem ob seiner Schlichtheit beeindruckenden Denkmal. Auf einer drei Hektar großen Waldlichtung hat man Felsbrocken abgekippt. Jeder symbolisiert ein Opfer des mörderischen Gemetzels. In der Mitte steht ein stählernes Gestell, an dem 105 Kupferglocken angebracht sind - eine für jeden Tag des Winterkrieges. Der Wind läutet sie. Zu lesen ist: »Der Mensch stirbt, aber die Erinnerung lebt fort«.
Diese Erinnerung weist zunehmend militante Züge auf. Die Deutschen, die als Wehrmachtssoldaten ins Land kamen, um gegen Leningrad anzurennen, werden in der Geschichtsbetrachtung wieder zu Brüdern - obwohl sich Finnlands Soldaten zum Ende des Zweiten Weltkrieges blutige Scharmützel mit ihnen lieferten. Gleichzeitig trennt man sich verbal wie politisch von der seit Jahrzehnten üblichen Rücksichtnahme gegenüber Moskau. Im Innern ist man geneigt, das bislang gute Verhältnis zu finnischen Russen aufs Spiel zu setzen. 25 000 Bürger verfügen über eine doppelte Staatsbürgerschaft. Die stärker gewordenen Rechtspopulisten wollen ihnen Arbeitsplätze in Sicherheits- und Verteidigungsbereichen verwehren. EU-Gleichheitsprinzipien werden verletzt.
In Helsinki mag man sich ohnehin immer weniger auf die schwächelnde EU verlassen und rückt näher an die NATO heran. So wie das gleichfalls offiziell noch neutrale Schweden. Sowohl Finnland als auch Schweden sind dem »NATO Partnership for Peace program« beigetreten. Man schickt Soldaten zu NATO-Übungen und empfängt Gegenbesuch. Eine Beistandspflicht besteht jedoch nicht. Anders wäre das bei einer Vollmitgliedschaft. So erwägt man in Helsinki und Stockholm einen gemeinsamen Eintritt in das Bündnis. Man könnte so einen größeren Einfluss in der Allianz geltend machen, hörte man am Rande des Warschauer NATO-Gipfels im Vorjahr.
Verdächtig dankbar erinnert man sich wieder daran, dass Schweden in den 1940er Jahren Freiwilligenverbände geschickt hatte, um »die Russen« zu stoppen. Auf jeden Fall möchte Finnland eine isolierte Pro-NATO-Entscheidung vermeiden, denn Russlands Präsident Wladimir Putin ließ keinen Zweifel an Gegenreaktionen - auf seiner Seite der Grenze. Offenbar hat Moskau derzeit noch keine Bodentruppen vorverlegt, wohl aber verstärkte die Luftwaffe ihre Aktivitäten in der bislang ruhigen Region. Vonseiten der NATO wäre Finnlands Betritt aber nicht nur als Stärkung der bisherigen Bündnisgrenze interessant. Die nordatlantischen Strategen blicken in die Zukunft. Da das Polargebiet demnächst als Wirtschaftsraum und damit auch militärisch interessanter wird, wären NATO-Stützpunkte in Finnland von größtem Wert. Von hier aus ließen sich die russischen Marine- und Luftwaffenstützpunkte in der Region um Murmansk kontrollieren.
Mit welchen Ambitionen auch immer, Tatsache ist: Finnland rüstet nicht nur im YouTube-Kanal auf. 280 000 statt bisher 230 000 Soldaten sollen bereitstehen, beschloss das Parlament vor wenigen Tagen. Bereits vor zwei Jahren hat das Verteidigungsministerium 900 000 Reservisten angeschrieben und an ihre patriotischen Pflichten erinnert. Zum Glück habe man die Wehrpflicht nicht abgeschafft, betont die Regierung und hebt die Militärausgaben an. Verteidigungsminister Jussi Niinistö von den rechtspopulistischen »Wahren Finnen«, will zusätzliche Mittel für neue Jagdflugzeuge, Fregatten und andere westliche Militärgüter freimachen und hat ab 2018 zusätzlich 55 Millionen Euro jährlich veranschlagt. Dafür soll bei Umweltthemen und in der Entwicklungshilfe gespart werden. Die Arbeitslosigkeit liegt derzeit bei neun Prozent und damit höher als in anderen skandinavischen Ländern. Die Staatsverschuldung verdoppelte sich seit 2008 und wegen der EU-Sanktionen leidet das Land, das bislang einen durchaus erträglichen Handelsaustausch mit Russland gepflegt hat, weitaus mehr als andere EU-Mitglieder. Das Gerücht, man werde angesichts dieser Situation womöglich eine »Verteidigungssteuer« einführen, mag Finanzminister Petteri Orpo von der konservativen Nationale Sammlungspartei nicht allzu stark dementieren.
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