Die Gewalt hemmt die Entwicklung
In Guatemalas Armenvierteln steht die katholische Kirche mit ihren Befriedungsversuchen auf verlorenem Posten
Noch kurz vor Beginn des morgendlichen Sonntagsgottesdienstes geben sich einige Frauen große Mühe, den Saal mit Farnen und Blumen zu schmücken. Wenig später sitzen über 300 Personen auf Plastikstühlen in der Kirche des San José in La Comunidad, einem Armenviertel im Osten von Guatemala-Stadt.
Die meisten Männer tragen Sonntagsanzüge, einige Frauen dezente Kleider, ein wenig Schmuck und etwas mehr Schminke als sonst. Doch viele Schuhe sind schmutzig von dem Staub auf den Pfaden, die aus den tiefen Schluchten der Umgebung herauf zur Kirche führen.
Der spanische Pater Javier kann seiner Gemeinde keine Hoffnung auf bessere Zeiten in dieser Welt machen. »Wir sind hier in einem Stadtteil, der als besonders gefährlich gilt. Ständig kommt es zu Gewalt, und ich muss immer wieder junge Menschen zu Grabe tragen, die ermordet wurden. Dann gehe ich hin und spreche ein Gebet. Was sonst kann man tun?«
Pater Javier hat einen besonderen Zugang zu Informationen über die Zukunft, die Beichte. Durch sie kennt er den Gemütszustand der jungen Generation: »Viele Kinder sind zornig, weil ihre Familien so viel Elend erleben. Wenn ein Angehöriger ermordet wird, erschüttert das die Jüngsten tief. Sobald sie fünfzehn Jahre alt sind, kommen diese Gefühle hoch und sie besorgen sich eine Pistole. Wir müssen ihnen beistehen und helfen, den Zorn zu überwinden. Was könnten wir anderes tun? Ich weiß es nicht.«
Guatemala hat eine der höchsten Mordraten weltweit. Die alltägliche Gewalt gilt als ein gravierendes Hemmniss für die Entwicklung des Landes. Die Vereinten Nationen haben sich zur Jahrtausendwende auf eine Reihe Entwicklungsziele geeinigt, unter anderem die Bekämpfung extremer Armut und die Reduzierung der Kindersterblichkeit. In Lateinamerika gilt Guatemala als das Land mit den geringsten Entwicklungserfolgen. Sechzig Prozent der UN-Millenniums-Entwicklungsziele wurden nicht erreicht. Pater Javier aber kann ein paar Erfolge vorweisen. Zum Beispiel bekommen jeden Tag zweihundert Kinder eine ausgewogene Mahlzeit in seinem Gemeindezentrum. Trotzdem wünscht sich die Sozialwissenschaftlerin Ninfa Alarcón, die Kirche würde mehr tun. Sie arbeitet in dem Menschenrechtsbüro des Erzbistums von Guatemala-Stadt: »Die katholische Kirche hat noch immer einen großen Einfluss auf die Menschen, auf die Familien. Zum Beispiel kann sie einiges erreichen, wenn sie das Thema der innerfamiliären Gewalt anspricht. Leider ist es hier noch immer üblich, dass schon die Kleinsten geschlagen werden. Das passiert zu Hause, dort wo sie eigentlich beschützt aufwachsen sollten. Viele werden auch sexuell misshandelt, von Stiefvätern, Onkeln, Großvätern oder auch von den eigenen Vätern. Da muss die Kirche offene Worte sprechen.«
Einer der engagiertesten Katecheten in der Gemeinde von Pater Javier in dem Armenviertel La Comunidad ist Cesar Puac. Der gelernte Automechaniker hat es sich zur Aufgabe gemacht, denjenigen Gemeindemitgliedern Mut zuzusprechen, die eine außergewöhnliche Lebenskrise durchlaufen. »Es gibt hier viel Erpressung«, erzählt er. »Auch deshalb werden so viele Leute ermordet. Menschen sterben, weil sie einen Laden besitzen oder ein kleines Geschäft haben.«
Der Körper des alten Manns ist dürr. Er wirkt müde. Trotzdem rafft er sich immer wieder auf und konfrontiert sich mit dem Leid der Schwestern und Brüder seiner Gemeinde: »Heute besuche ich eine Mutter, die um den Tod ihres Sohnes trauert. Als Repräsentant der Kirche werde ich ihr Mut zusprechen.«
Er steht vor einem roten Haus mit Wellblechdach in dem Aura Peréz wohnt, zusammen mit ihrer Tochter Sheila. Die Frau hat vier Kinder zur Welt gebracht. Drei davon sind gestorben. Nach der Begrüßung erzählt sie, dass zuletzt ihr Sohn Miguel erschossen wurde. Das war vor einem Monat: »Zuerst ist mein Mann gestorben, dann mein kleines Baby und jetzt mein Sohn. Schon der zweite. Aber ich spüre, dass Gott immer bei mir ist. Er lässt mich nie allein.«
Cesar Puac kennt das Schicksal der Familie sehr genau: »Diese Mutter kommt zu uns in die Kirche. Ihr Sohn wurde ermordet, weil er Drogen verkauft hat. Niemand weiß, wer das getan hat.«
Statistisch gesehen werden in Guatemala nicht einmal sieben von hundert Morden aufgeklärt. »So ein Besuch ist natürlich erschütternd«, sagt Cesar Puac, als er wieder vor der Hütte im Staub der Straße steht. »Man würde gerne mehr tun, um zu helfen, sowohl mit Geld als auch mit dem Herzen. Ich weiß, was diese Mutter durchmacht. Meiner Familie ist dasselbe passiert. Vor acht Jahren wurde mein Neffe ermordet.«
Auf die Frage, wie es der trauernden Mutter gelingen kann, sich trotz der vielen Schicksalsschläge jeden Tag wieder zur Arbeit aufzuraffen, antwortet der Katechet lakonisch: »Es geht ja nicht anders!«
Angesichts dieses Fatalismus macht sich der Psychologe Marco Antonio Garavito Sorgen um die ethischen Säulen der Gesellschaft. Er hat an mehreren Studien über die mentale Gesundheit der Bevölkerung Guatemalas mitgewirkt und befürchtet, das Wertesystem der Menschen könnte aus den Fugen geraten: »Nach einem Verlust durchläuft der Mensch immer einen Prozess der Trauer. In Guatemala aber müssen wir uns beeilen. Du lebst beschleunigte Phasen der Trauer, denn es kommen immer wieder neue Verluste hinzu. Du kannst ja nicht eine Trauer über die andere und darüber die nächste packen.«
Überall in der Hauptstadt ist die Angst vor der alltäglichen Gewalt zu spüren. Daran ändert auch die Kirche nur wenig, kritisiert der Psychologe: »Die Kirche verspricht ein ewiges Leben im Himmel. Bei der armen Bevölkerung Lateinamerikas hat diese Vorstellung zu einem Fatalismus geführt. Sie akzeptiert ihr Leid, weil sie glaubt, Gott habe es so gewollt.«
Diese Kritik will Pater Javier so nicht stehen lassen. Zum Beispiel spricht er in seinen Predigten immer wieder davon, wie wichtig eine gewaltfreie Erziehung ist. Aber er weiß, dass diese Botschaft nicht ausreicht, um die trostlose Lage in den Armenvierteln zu verbessern. »Zumindest sind wir hier. Das ist doch schon mal was. Wir sind bei den Menschen und wir tun, was in unserer Macht steht.«
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