Auch sie waren Opfer des Nazi-Regimes

Sylvia Köchl erinnert an das Schicksal von von »Berufsverbrecherinnen« im Konzentrationslager Ravensbrück

  • Annette Neumann
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück waren von 1939 bis 1945 über 120 000 Frauen und Kinder aus über 30 Ländern inhaftiert. 28 000 Häftlinge erlagen den katastrophalen Lebensbedingungen oder wurden ermordet. Im Zuge der Aufnahmeprozedur wurden die Frauen kategorisiert und farbig gekennzeichnet als »Politische«, »Berufsverbrecherinnen«, »Asoziale«, Jüdinnen oder Bibelforscherinnen (Zeuginnen Jehovas).

Sylvia Köchl, Politikwissenschaftlerin und Journalistin aus Wien, widmet sich einem schwierigen Thema, denn über die »Berufsverbrecherinnen« ist auch 72 Jahre nach Kriegsende wenig bekannt. Es handelt sich um eine kleine Häftlingsgruppe; etwa 1100 Frauen trugen den grünen Winkel, der sie als »Kriminelle« stigmatisierte. Zum Vergleich: Etwa 70 000 waren als »Politische« inhaftiert. Seit Ende der 1990er Jahre engagiert sich die Autorin in der Österreichischen Lagergemeinschaft ehemaliger Ravensbrück-Häftlinge. Sie stellte bald fest, dass es an Wissen über die »Berufsverbrecherinnen« mangelt, das Bild über jene sehr negativ besetzt ist und es keinerlei Kontakte zu ihnen gab.

Bald nach Errichtung der Nazi-Diktatur war es möglich, Personen ohne Gerichtsurteil für unbegrenzte Zeit in ein Konzentrationslager einzuweisen - das Ende rechtsstaatlicher Verfahrensweisen, das sogenannte »Berufsverbrecherinnen« ebenso traf wie Widerstandskämpferinnen. Angesichts dieser Tatsache ging die Autorin der Frage nach, warum ehemalige »Politische« so sehr auf Abgrenzung zu einstigen »kriminellen« Häftlingen bedacht waren. Eine Ursache lag darin, dass die Nazis der »Volksgemeinschaft« suggerierten, dass im KZ ausschließlich Verbrecherinnen eingesperrt seien. Diese Lüge wirkte lange nach. Mehrere ehemalige politische Gefangene berichten, dass es noch Jahre nach dem Kriegsende entsprechende Anfeindungen gab.

All dies wurde zum Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit. Ausführlich berichtet die Autorin über die Entstehungsgeschichte des Buches, über die Quellenlage und über Rechtsprechung und Strafvollzug in Österreich unter der Nazi-Herrschaft.

Köchl ist auf 42 Österreicherinnen gestoßen, die als Diebinnen und Abtreiberinnen nach Haftstrafen ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert worden sind. Die Geschichte von acht Frauen steht im Mittelpunkt dieses Buches. Die Autorin berichtet über die Vorgeschichte der Frauen, ihre Zeit im Lager und über das Schicksal von vier Überlebenden nach 1945. Schließlich widmet sie sich Grundlinien der Opferfürsorge in Österreich nach 1945.

Die Lebenswege der acht zwischen 1870 und 1905 geborenen Frauen waren geprägt von Armut und Not. Die meisten wurden unehelich geboren, was damals hieß, dass sie in Pflege gegeben werden mussten und fern von der Mutter aufwuchsen. Nur eine der Frauen hat einen Beruf gelernt; Schulbesuch war ihnen - wenn überhaupt - nur wenige Jahre zuteil geworden. Mit kleinen Diebstählen und/oder Abtreibungen haben sie sich in wirtschaftlichen Notzeiten über Wasser gehalten und haben einen hohen Preis gezahlt. Vier der acht Frauen starben im Lager.

Es war das erklärte Ziel der Lager-SS, Unterschiede und Gegensätze zwischen den Häftlingsgruppen zu schüren. Dazu dienten auch Häftlingsfunktionen. Einige Häftlinge wurden ausgewählt, Aufsichts- und Kontrollfunktionen als Lagerälteste, Stuben- und Blockälteste, Arbeitsanweiserinnen oder Lagerpolizistinnen auszuüben. Die Funktionshäftlinge prägten das Alltagsleben im Lager entscheidend. Es war ein großer Unterschied, ob sie ihre Spielräume solidarisch nutzten oder im Sinne der SS wirkten. In den ersten Jahren setzte die Lager-SS gern »Grünwinklige« in Funktionen ein. Viele politische Häftlinge berichteten über Schläge, ungerechte Essensverteilung und Meldungen von »Vergehen« durch »kriminelle« Funktionshäftlinge, die zu schweren Bestrafungen führten. Ein Beispiel war die von der Autorin porträtierte Johanna Manz. Es gibt aber auch Schilderungen von solidarischem und mitmenschlichem Verhalten von »Berufsverbrecherinnen«. Dafür steht Marianne Scharinger.

Johanna Manz (Name ist im Buch geändert) wurde nach mehreren Haftstrafen wegen Diebstahls 1942 nach Ravensbrück deportiert und konnte 1945 aus einem Außenlager fliehen. Als Stuben- und Blockälteste war sie gefürchtet für ihre Brutalität. »Hansi«, wie sie im Lager hieß, führte die Prügelstrafe im Lager aus. Sie wurde nach 1945 von Mithäftlingen angezeigt und 1951 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu zwei Jahren Kerkerhaft verurteilt.

Marianne Scharinger, mehrfach wegen Abtreibung vorbestraft, war ab 1939 Blockälteste und 1943/44 Lagerälteste. In diesen Funktionen hat sie sehr umsichtig agiert und sich den Respekt der politischen Häftlinge erworben. Als 1947/48 gegen sie wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermittelt wurde, haben sich mehrere ehemalige politische Gefangene für sie eingesetzt, so dass das Verfahren schließlich eingestellt wurde.

Frauen, die als »Kriminelle« oder »Asoziale« im Konzentrationslager waren, galten nicht als Opfer des Nationalsozialismus und hatten nach 1945 keinen Anspruch auf finanzielle Entschädigung wie sie für politische Häftlinge üblich war. Sylvia Köchl plädiert zu Recht - bei aller Unterschiedlichkeit der von ihr vorgestellten Biografien - dafür, alle ehemaligen KZ-Häftlinge als Opfer des Nazi-Regimes anzuerkennen.

Sylvia Köchl: Das Bedürfnis nach gerechter Sühne. Wege von »Berufsverbrecherinnen« in das Konzentrationslager Ravensbrück. Mandelbaum Verlag. 340 S., geb., 24,90 €.

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