Immer wieder aufstehen
Christoph Winklers »Routinen. Brave Kinder tanzen nicht« im Prater
Ein junger Mensch wird hingebogen. Es gibt Regeln, die er lernen soll. Noch ist er biegsam. Das zeigt das erste Bild der Choreografie. Von allen Seiten kommt mehr oder weniger sanft der Einfluss. Das Kind braucht ihn, um seine Grenzen zu erkennen. Was man ihm an Gutem, auch an Schlechtem mitgibt, das wird es fortan begleiten. Erste Routinen stellen sich ein.
»Wege-Erfahrung« bedeutet das aus dem Französischen kommende Wort »Routine«, das den positiv wie negativ möglichen Vorgang beschreibt. Bei Christoph Winklers Tanztheaterproduktion »Routinen. Brave Kinder tanzen nicht« im Jungen Staatstheater Berlin ist er erst einmal eher lästig: Jeden Morgen aufstehen, Zähne putzen, waschen. Aufstehen, Zähne putzen, waschen ...
Winkler lässt das in seiner Choreografie oft wiederholen. Das junge Publikum für das Stück ab neun Jahren sitzt im Spielort Prater in Prenzlauer Berg nahe bei den Künstlern. Die zwei namhaften Tänzer Ahmed Soura und Aloalii Tapu setzte er dafür ein. Zusätzlich holte er sich die zwei Schauspielerinnen Mira Tscherne und Nina Maria Wyss aus dem Ensemble des Jungen Staatstheaters. Er braucht sie für die gesprochenen Passagen und bindet sie beim Tanz ein, was sie hervorragend bewältigen.
Für Jugendliche bis zum Alter von 13 Jahren konzipierte Winkler das Stück und lässt als Resümee erzählen, was bis dahin im Leben so zusammenkommt an Stunden für Schule, Freizeit, Schlaf oder Tagtraum. Da kann man staunen. Auch über die 91 Kilogramm Nudeln, die sich ein Kind bis dahin möglicherweise schmecken lässt. Die Darsteller sind mit sichtlicher Freude dabei, dann von kleinen Streichen aus ihrer Kindheit zu erzählen. Da wurde beispielsweise Schminke von Mutter oder Großmutter ausprobiert, was gründlich schiefging. Auch von harmloser Verweigerung ist die Rede. Füße werden nicht gewaschen. Da pinkelt man beim Duschen drauf und basta.
Größeren Widerstand gibt es in den Erinnerungen nicht. Auch die Frage von Kindern nach dem Sinn von Routine taucht kaum auf. Keine deutliche Abneigung gegen sich ständig wiederholende Vorgänge. Also beispielsweise, warum man sich abends ausziehen soll, wenn man sich morgens wieder anziehen muss. Oder warum man sich dauernd waschen soll, wenn man doch wieder dreckig wird. Notwendigkeit wird in Winklers Konzept weithin akzeptiert.
Dem erfolgreichen Berliner Choreografen wird viel Eigendisziplin nachgesagt. Vielleicht hängt es damit zusammen. Menschen, die ihn kennen, benutzten schon den Begriff »Arbeitstier«. Die Antwort darauf, was brave Kinder sind, und warum sie nicht tanzen, bleibt offen. Vielleicht, weil es sie gar nicht gibt, diese braven Kinder. In der Szene, in der der Choreograf einen übermütigen Song von Taylor Swift tänzerisch kolportiert, sind sie kaum auf den Bänken zu halten.
Zur Routine gehört auch, sich von anderen bewunderte Eigenschaften anzueignen. Das ist witzig vermittelt. Wie findet man einen gemeinsamen Rhythmus? Wie lernt man einen coolen Gang? Herrlich ins Groteske bringt er das. Vor allem Methoden der Selbstverteidigung von Mädchen sind wohl schon mit Heiterkeit von ihm für dieses Stück erdacht. Die Besetzung mit Aloalii Tapu aus Neuseeland und Ahmed Soura aus Burkina Faso bringt kleine Geschichten von der Kindheit in diesen Ländern ein, was von der inhaltlichen Mitwirkung der beiden Tänzer erzählt.
Im letzten Teil des knapp einstündigen Stücks erscheint auch die Tänzerin Siham Refaie. Bevor sie zu tanzen beginnt, erzählt sie, welches Erlebnis mit ihrem Vater sie prägte und bis heute mit ihm eng verbindet. Das verfolgen die Kinder interessiert. Bei ihrem Solo verebbt die Aufmerksamkeit langsam. Das scheint von Winkler einkalkuliert. Er lässt nun die anderen wieder aktiv werden und damit die Wahrnehmung neu entfachen. So endet das Stück harmonisch im gemeinsamen wilden Tanz.
Nächste Vorstellungen: 21., 22. April im Prater, Kastanienallee 7-9, Prenzlauer Berg
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