Judith Butler und die Suche nach der sozialen Frage
Seit Jahrzehnten diskutieren Feministinnen über Kapitalismus und Patriarchat – unter dem Druck von Rechts wird es nicht einfacher
Judith Butler hat ganz offensichtlich die Nase voll von dieser Frage. Ich eigentlich auch, aber sie wird nun einmal gestellt in den Diskussionen um das Erstarken der Front National und der AfD, um den Wahlsieg Donald Trumps und um die Politik der Linkspartei, also muss ich fragen: Ist die Linke mitverantwortlich für den Rechtsruck, weil sie die soziale Ungleichheit vor lauter feministischer und antirassistischer Identitätspolitik vernachlässigt hat?
»Nein. Wenn man schwule, lesbische, trans- oder feministische Politik für den rechten Zorn auf sie verantwortlich macht, dann akzeptiert man den Rahmen rechter Analysen«, sagt Butler bestimmt. »Das Problem ist, dass Feminismus von seinen Gegnern als Form von moralischer Zensur charakterisiert wurde, ungerechterweise – statt als Philosophie und Politik der Befreiung und der radikalen Gleichheit.«
Butler muss das sagen, die feministische Philosophin ist schließlich die Ikone des »cultural turn« der Sozialwissenschaften. Darunter versteht man die Wendung hin zu einer Analyse der Entstehung von Geschlechtsidentitäten, der Frage, wie Menschen zugeschrieben wird, wie sie sich zu verhalten haben, was sie zu wollen und zu können haben – als Mann oder als Frau, als Weiße oder als Schwarze. Mit ihrem Werk »Das Unbehagen der Geschlechter« löste Butler 1990 nichts weniger als eine kleine Revolutionierung der Geisteswissenschaften aus.
Eng damit verbunden ist die Forderung nach einer Weitung des Blicks, nach Anerkennung von Menschen, die sich nicht in diese Wahrnehmung einordnen lassen – also Homosexuelle, Transsexuelle, Queers, Menschen, die weder Mann noch Frau sein wollen, und solche, die vielleicht nur ein bisschen Mann oder ein bisschen Frau sein wollen. Diese Erweiterung ist es, die Rechtspopulisten heute als »Gender-Wahn« bezeichnen. Aber auch manche Linke monieren in den Kommentarspalten, die Arbeiterklasse mache so einen Quatsch nicht mit, sie fühle sich von linken Diskussionen abgehängt, für ihre Klasseninteressen wähle sie nun die AfD und die Linke müsse tunlichst endlich wieder »ordentliche« Klassenpolitik machen. Wie passend zum 150. Geburtstag von Marxens »Kapital«: Viele dürstet es danach, den Hauptwiderspruch zu lösen, auch wenn man das heute nicht mehr sagt, man sagt: »soziale Frage«.
»Die ›soziale Frage‹ hat eine spezifische Bedeutung in Deutschland, die ich nicht wirklich verstehe«, wirft Butler ein. »Warum sollte Feminismus nicht Teil dieser ›sozialen Frage‹ sein? Er befasst sich doch mit Ungleichheit, mit ungleicher Entlohnung, mit dem Zugang zu Gesundheitsversorgung, mit dem Recht auf Bildung. Der globale Feminismus fragt, warum Frauen so überproportional arm sind, ungebildet, und Opfer von Gewalt. All das sind ›soziale Fragen‹.« Gleichzeitig räumt die Feministin ein, dass wir uns wieder »mehr über Klassenfragen bewusst werden müssen«: »Es wäre klug, die wichtige Tradition des marxistischen Feminismus wiederzubeleben. Viele von uns lesen heute wieder Marx.«
Die Suche nach der Geschlechteranalyse bei Marx und Engels
Was hat Marx zur Geschlechterungleichheit zu sagen? Seit Ende der 1960er Jahre haben marxistische Feministinnen sich intensiv mit dieser Frage beschäftigt. Und siehe da, auch ich werde schnell fündig. In den Pariser Manuskripten listete Engels akribisch auf, wie viele Frauen und Männer 1833 in den Fabriken beschäftigt waren. Das Ergebnis überrascht all jene, die bei dem Wort »Arbeiter« einen verschmutzten Mann mit Mütze vor Augen haben, denn die Industrialisierung war weiblich. So waren in den nordamerikanischen Baumwollfabriken 18 493 Männer und 38 927 Frauen beschäftigt. Auch für die englischen Fabrikindustrien stellt Engels in der »Lage der Arbeiterklasse« fest: Zwei Drittel der »Arbeiter« waren weiblich.
Daraus folgerte Engels eine »Auflösung der Familie« und kam zu dem Schluss, dass die Herausbildung des Proletariats automatisch mit der Befreiung der Frau einher gehe: »Hier fehlt alles Eigentum, zu dessen Bewahrung und Vererbung ja gerade die Monogamie und die Männerherrschaft geschaffen wurden, und hier fehlt damit auch jeder Antrieb, die Männerherrschaft geltend zu machen.« Nach der Revolution würde das Geschlechterverhältnis »zu einem reinen Privatverhältnis«.
Entweder warten wir noch immer auf die richtige Proletarisierung – oder Engels irrte. Es ist jedenfalls diese Annahme des Nacheinanders von Befreiungskämpfen, die Feministinnen ablehnen, sowie Marx’ Vernachlässigung einer Analyse der Reproduktionsarbeit. »Das Gesamt der zur Reproduktion nötigen Arbeiten und ihre Unterstützung in Moral, Recht, Politik, kurz: Ideologie, Sexualität usw. geht nicht in die Analyse ein«, kritisiert die marxistische Feministin Frigga Haug. Es gebe zwei Sätze in Marx' »Kapital«, die zeigten, wie sehr diese Kritik zutreffe: »Die beständige Erhaltung und Reproduktion der Arbeiterklasse bleibt beständige Bedingung für die Reproduktion des Kapitals. Der Kapitalist kann ihre Erfüllung getrost dem Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb der Arbeiter überlassen.«
Marxistischer Feminismus
LINKE-Chefin Katja Kipping ärgert sich als marxistische Feministin über diese Auslassung. »Marx und vor allem Engels haben die Geschlechterverhältnisse und ihre Verbindung zur kapitalistischen Produktion zwar erkannt, sie jedoch in ihrer Analyse und ihrer Politik nicht weiter verfolgt.« Sie warnt mich aber davor, den Marxismus deshalb zu verbannen. Als Feministin solle ich mir »mit der Marx’schen Methode Marx selbst feministisch aneignen und mit ihm die heutigen Verhältnisse analysieren.«
In der »Deutschen Ideologie« lassen Marx und Engels einen Satz fallen, der dafür hilfreich ist: dass nämlich »eine bestimmte Produktionsweise oder industrielle Stufe stets mit einer bestimmten Weise des Zusammenlebens oder einer gesellschaftlichen Stufe vereint ist, und diese Weise des Zusammenlebens ist selbst eine ›Produktivkraft‹.« Die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern – der Mann als Hauptverdiener, die Frau als unentlohnte Köchin, Wäscherin, Erzieherin, Sexarbeiterin, Beziehungsberaterin und Nachbarschaftsorganisatorin – ist also selbst Teil der Produktionsverhältnisse.
Diese für den marxistischen Feminismus zentrale Analyse tauchte in den vergangenen Jahren als »Care Revolution« wieder auf. Unter diesem englischen Begriff für die oben aufgezählten, noch immer hauptsächlich von Frauen geleisteten Sorgetätigkeiten arbeiten marxistische Feministinnen an politischen Forderungen, um die Produktions- und Reproduktionsarbeit nach 200 Jahren Kapitalismus gerecht zwischen den Geschlechtern aufzuteilen.
Von der Herdprämie zur Care Revolution
»Der Fokus auf Care-Arbeit ist genau der richtige Weg für einen ›social return‹«, findet die Sozialwissenschaftlerin Lisa Yashodhara Haller. Sie arbeitet in einem Forschungsprojekt zu Mutterschaft an der Universität Hildesheim. Allerdings sieht sie die Debatten um Sorgearbeit in einem Dilemma. »Wenn wir Care monetär aufwerten wollen, etwa durch die Bezahlung von Hausarbeit oder eine ›Herdprämie‹, wie die CSU sie will, gibt es die Gefahr einer Verstetigung traditioneller Geschlechterrollen. Umgekehrt kann es kein linkes Anliegen sein, Care in die Wertform zu überführen – das stellt eine weitere Landnahme dar, die Kapitalisierung aller Lebensbereiche.«
Care in Wertform, das heißt, dass ein Vater die Betreuung seines Kindes in der Kita kauft, dass der Klinikkonzern die Pflege eines Kranken verkauft, erklärt mir Gabriele Winker. Sie hat das »Care Revolution«-Netzwerk mit gegründet. »Jede Care-Arbeit – Pflege, Beratung, Betreuung, Bildung, Gesundheitsversorgung – lässt sich auch warenförmig organisieren, damit lässt sich Mehrwert, also auch Profit realisieren.« Da sich die Produktionsmittelbesitzenden diesen Mehrwert aneignen, versuchen sie, »mit möglichst wenig Personal hohe Profite zu realisieren, um sich im Konkurrenzkampf zu behaupten. Darunter leiden die Menschen, die auf gelingende Sorgearbeit angewiesen sind – wir alle.«
Wenn Sorgearbeit in privaten Unternehmen dem Zweck der Kapitalverwertung unterworfen wird, sei dies besonders problematisch, da die Organisation von Sorge tief in das menschliche Leben eingreife. Winker ist davon überzeugt, dass Kämpfe im Sorge- und Pflegebereich revolutionäre Sprengkraft besitzen: Substanzieller Mindestlohn, bedingungsloses Grundeinkommen, deutlich bessere Entlohnung der Arbeit in Care-Berufen, Arbeitszeitverkürzung für Vollzeit-Erwerbstätige mit Lohn- und Personalausgleich, Vergesellschaftung des Gesundheitssystems und die Schaffung von demokratischen »Care-Räten« sind ihre Forderungen.
Auch Haller findet die Beschäftigung mit Sorgearbeit dringend notwendig. »Die Linke, besonders antikapitalistische Zusammenhänge, haben über einen sehr langen Zeitraum hinweg zentrale Aspekte in der Auseinandersetzung um die Geschlechterfrage ignoriert«, sagt sie, etwa die Familienpolitik. Es könne nicht sein, dass der Bundestag entscheidet, das Elterngeld auf Hartz IV anzurechnen – »und keine linke Feministin steht auf, um dagegen zu protestieren!«
Für und Wider des liberalen Feminismus
Schuld daran sei die Dominanz des »liberalen Feminismus«. Dieser habe zwar dazu ermutigt, sich gegen »traditionelle Zuschreibungen zu wehren« – angesichts der Ausrichtung des deutschen Wirtschaftssystems auf ein männliches Familienernährermodell sei das eine sinnvolle Strategie gewesen. »Allerdings haben wir uns zu sehr einlullen lassen von dem Versprechen des liberalen Feminismus: ›Wenn du Leistung bringst, darfst du mitspielen und dein Geschlecht spielt keine Rolle mehr.‹«
Das sieht auch Kipping so. Im marxistischen Feminismus gehe es nicht darum, »dass Frauen in der gleichen Geschwindigkeit wie Männer im neoliberalen Hamsterrad laufen«, sondern es sei das Ziel, »aus diesem Hamsterrad auszubrechen, und zwar nicht jede für sich, sondern gemeinsam mit vielen«. Kipping findet es zentral, dass die Linke »soziale Forderungen gegen Armut, für bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne oder Investitionen in das Öffentliche stark macht.« Gleichzeitig hätten (queer)feministische Forderungen immer wieder hart erkämpft werden müssen – »auch in unserer LINKEN.« Es dürfe nicht sein, dass sie mit dem Verweis auf die soziale Frage immer wieder in die Nischen linker Politik verbannt würden. Das Ausspielen dieser Politiken gegeneinander sei es, das dem Rechtspopulismus Vorschub leiste.
Dann haben FeministInnen also alles richtig gemacht? Ich frage noch einmal, diesmal Lisa Haller. Nein, sagt sie, und widerspricht Butler in dieser Frage. Es gebe doch einen Grund, warum die Rechte erstarke. »Wir können nicht die Arroganz aufbringen und sagen, wir haben nichts falsch gemacht.« Für Linke und FeministInnen sei es jetzt »definitiv an der Zeit, ökonomische Verhältnisse in den Blick zu rücken.«
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