Immer mehr Fälle von Kirchenasyl
2016 wurde 1.139 Menschen Schutz gewährt / Verschärfte Abschiebepolitik führt zu Anstieg
Berlin. Immer mehr Kirchengemeinden in Deutschland gewähren Flüchtlingen Kirchenasyl, um sie vor einer Abschiebung zu schützen. Im vergangenen Jahr zählte die Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche bundesweit 692 Fälle. 414 Kirchenasyle wurden dabei neu begonnen, teilte die Organisation am Freitag in Berlin mit. Die große Mehrzahl der Kirchenasyle wird dabei von evangelischen Gemeinden gewährt (609 Fälle), die katholische Kirche gewährt demgegenüber weit weniger Menschen Zuflucht in ihrer Kirche (52 Fälle). Insgesamt fanden im vergangenen Jahr 1.139 Menschen Schutz, darunter mindestens 277 Kinder und Jugendliche.
2015 hatte die Bundesarbeitsgemeinschaft insgesamt 620 Kirchenasyle registriert, 416 Fälle davon waren neu dokumentiert. Demnach fanden 2015 mindestens 1.015 Menschen in Kirchen Schutz, 2014 waren es 788 und ein Jahr davor lediglich 162.
Jan Rouven Drunkenmölle von der Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche macht dafür verschiedene Faktoren verantwortlich. Neben dem Anstieg der Flüchtlingszahlen sei es vor allem der Umstand, dass sich immer mehr Menschen für Flüchtlinge engagieren und dadurch ein größerer Austausch stattfindet, der dazu führe, dass immer mehr Gemeindemitglieder Kirchenasyl vermitteln. Aber auch die verschärfte Abschiebepolitik der Bundesregierung spiele eine große Rolle, da sich dadurch die Notlage vergrößere und mehr Menschen von Abschiebung bedroht sind, weswegen vermehrt Anfragen kämen.
Mit dem Kirchenasyl verfolgen die Beteiligten das Ziel, Flüchtlingen zu einem - zumindest vorläufigen - Bleiberecht zu verhelfen. Dabei können entweder die Flüchtlinge, die von Abschiebung bedroht sind, selbst oder aber ihre Unterstützer an die Gemeinde herantreten und um Kirchenasyl bitten. Der Fall wird dann anschließend im Gemeindekirchenrat, einem Entscheidungsgremium innerhalb der Kirche, diskutiert und bei positiver Entscheidung von Unterstützern, Kirchengemeinde und betroffener Person gemeinsam organisiert.
Bei der überwiegenden Mehrheit der in Kirchenasyl befindlichen Personen handelt es sich um Flüchtlinge, die auf Basis der europäischen Dublin-Regeln in dem Staat Asyl beantragen müssen, in dem sie in die EU eingereist sind und Deutschland deshalb verlassen müssen. Von den 2016 dokumentierten Kirchenasylen waren 632 sogenannte Dublin-Fälle mit 959 Personen, darunter 191 Kinder und Jugendliche.
In den meisten dieser Fälle drohte den Betroffenen eine Abschiebung nach Bulgarien, Italien oder Ungarn. Meist handelt es sich dabei um Fälle, bei denen die Situation der Personen in dem Drittstaat nach Ansicht der Kirchengemeinde nicht berücksichtigt wurde, wenn sie beispielsweise Gewalt erlebt oder auf der Straße gelebt hätten, so Drunkenmölle im Gespräch mit »nd«. Aber auch gesundheitliche Gründe spielen eine Rolle oder der Umstand, dass die Betroffenen schon lange in Deutschland leben und hier verwurzelt sind oder Familie haben. Es gibt jedoch auch Kirchenasyl für Nicht-Dublin-Fälle. Seit die Bundesregierung angefangen habe, vermehrt Schutzsuchende nach Afghanistan abzuschieben, gibt es einen Anstieg von afghanischen Flüchtlingen im Kirchenasyl.
Generell ist die Gewährung von Kirchenasyl jedoch immer eine Gewissensentscheidung des Gemeindekirchenrats. »Es kommt in der Regel darauf an, dass es sich um Härtefälle handelt, dass die Gemeinde der Überzeugung ist, dass eine besondere Härte vorliegt, die vom Bundesamt für Migration nicht ausreichend berücksichtigt wurde«, erklärt Drunkemöller. Für viele Gemeinden ist jedoch auch entscheidend, das es eine Perspektive gibt, eine mögliche Chance auf Erfolg. Schließlich kommt es nur dann zum Kirchenasyl, wenn es rechtlich keine Möglichkeiten mehr gibt, also wenn die Abschiebung unmittelbar vor dem Vollzug ist. Bei Dublin-Fällen gebe es durch den Ablauf der 6-Monats-Frist, die der Staat hat, um die Betroffenen abzuschieben, oder durch den Selbsteintritt von Deutschland, also wenn auf die Überstellung an den zuständigen Staat verzichtet und das Asylverfahren selbst durchführt wird, relativ konkrete Möglichkeiten, etwas zu erreichen.
Nach einem vor zwei Jahren mit den Kirchen vereinbarten Verfahren prüft das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gemeldete Kirchenasyl-Fälle noch einmal individuell - oft mit einem positiven Ausgang für die Betroffenen: 2016 konnten in 397 Fällen von insgesamt 417 beendeten Kirchenasylen die Betroffenen vor einer Abschiebung bewahrt werden.
Generell steht die Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche dem Dublin-System sehr kritisch gegenüber. »Wir haben sehr deutliche Kritik an dem Dublin-System und halten es für gescheitert und auch für falsch« stellt Drunkemöller gegenüber »nd« klar. Auch die verschärfte Abschiebepraxis der Bundesregierung stößt auf Kritik: »Wir sind gegen diese Abschiebepolitik, kritisieren diese und beteiligen uns auch an Bündnissen, um dagegen politisch aktiv zu werden. Zum einen halten wir die verschärften Verfahren für inhuman und zum anderen auch die Unterbringung der Geflüchteten. Das beruht unserer Meinung nach sehr stark auf Abschottung und Ausgrenzung und nicht auf Teilhabe für Geflüchtete.«
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