Warum grünt es nicht, Herr Özdemir?
Der Grünen-Spitzenkandidat über schlechte Umfragewerte und die Agenda seiner Partei zur Bundestagswahl
Eine Allensbach-Umfrage zur Bundestagswahl sieht die Grünen bei sechs Prozent, einem Allzeittief seit August 2002. Als Spitzenkandidat tragen Sie die Verantwortung dafür - was haben Sie falsch gemacht?
In der aktuellen Forsa Umfrage stehen wir bei acht Prozent und die Antwort kann ja nicht sein, jetzt fünf Monate vor dem Wahltag zu verzagen. Wenn ich mir die Themen der einschlägigen Polit-Talkshows angucke, könnte man meinen, der Klimawandel finde nicht statt und Klimaschutz sei Gedöns. Das Gegenteil ist der Fall, da geht es ans Eingemachte. Unser Wohlstand, unsere Wirtschaftsweise, unsere natürlichen Lebensgrundlage, kurz die Welt, wie wir sie kennen, steht auf dem Spiel. Wir haben das erkannt. Wir gehen raus mit unseren Argumenten. Wir kämpfen für unsere Ziele. Ich bin mir sicher, am Ende steht ein gutes Ergebnis. Aber klar ist: Es wird alles andere als ein Selbstläufer. Es ist aber noch alles drin.
Sie wollten vor allem mit ihrem Markenkern - der Umweltpolitik - punkten. Warum dringen die Grünen nicht mehr mit dem Thema durch? Und was wollen Sie daran ändern?
Jetzt heißt es mal wieder, eigentlich seien doch alle irgendwie grün, was natürlich Quatsch ist. Ja, in der Mitte der Gesellschaft, selbst bei weiten Teilen der Wirtschaft, ist vieles von dem längst angekommen, wofür wir Grüne immer gestritten haben: Bio, fair gehandelt, regional sind mittlerweile in aller Munde und die Wirtschaft verdient häufig gutes Geld mit nachhaltigen Produkten. Aber wenn ich mir die politische Konkurrenz anschaue, dann tun sich noch echte Abgründe auf. Für die anderen Parteien ist es kein Problem, dass unsere CO2-Emissionen nicht runter gehen. Dass die Artenvielfalt abnimmt und Bienen sich mittlerweile in den Städten wohler fühlen als auf dem Land, wegen einer Landwirtschaft, die immer noch auf Pestizide und Glyphosat setzt. Wir haben den Mut, uns auch mit starken Lobbys anzulegen und immer die Interessen der künftigen Generationen im Blick. Auch wenn diese Themen gerade nicht in den Talkshows top sind, für unsere Zukunft sind sie entscheidend.
Cem Özdemir ist Spitzenkandidat der Grünen für die Bundestagswahl. Im nd-Gespräch mit Benjamin von Brackel sucht der Parteivorsitzende nach Gründen für das historische Umfragetief, in dem die Partei derzeit steckt, und versucht zu erklären, warum man immer noch die Grünen wählen sollte.
Es gäbe ja Anknüpfungspunkte an die Lebenswelt der Menschen - etwa die Gesundheitsbelastung durch Feinstaub, Stickoxide und Quecksilber durch Benziner, Dieselfahrzeuge und Kohlekraftwerke - die Grünen thematisieren das zwar, allerdings nicht wirklich offensiv und konsequent. Warum eigentlich nicht?
Die Frage müsste eigentlich umgekehrt lauten: Die Grünen thematisieren genau diese Themen ständig in den Ländern und im Bundestag, durch Anträge, Kleine Anfragen, Debatten … Niemand ist da so fleißig und kundig wie wir. Warum werden diese Aktivitäten in der Presse, in der öffentlichen Debatte nicht aufgegriffen? Das Thema, das derzeit sehr breit läuft, ist der Dieselskandal und das voraussehbare Ende des Verbrennungsmotors. Und wir Grüne sind die einzigen, die für diesen Prozess ein Umstiegskonzept haben und sich intensiv mit den Automobilkonzernen dazu austauschen. Ich bin mir sicher, dass die Konzernlenker verstehen, dass wir eine Politik der ausgestreckten Hand verfolgen und das allergrößte Interesse haben, die Industrie und die Arbeitsplätze zu erhalten. Gerade deshalb müssen wir Druck machen.
Sie haben die »Ehe für alle« als Bedingung an einen Koalitionseintritt der Grünen im Bund geknüpft. Welcher Punkt in der Energie- und Klimapolitik ist Ihnen so wichtig, dass Sie ohne dessen Berücksichtigung nicht in die Regierung eintreten würden?
Wir führen keine Koalitionsverhandlungen vor der Wahl und erst recht nicht öffentlich. Seit unseren Gründungstagen steht der Klimaschutz im Mittelpunkt unserer Politik und die sieben rot-grünen Regierungsjahre zeigen das ja auch: Wir haben unter anderem eine Ökosteuer eingeführt, den Atomausstieg eingeleitet und das Erneuerbare Energien Gesetz vorgelegt. Ich glaube, das kann sich sehen lassen. Jetzt müssen wir in der Landwirtschaftspolitik mit der Agrarwende, in der Verkehrspolitik beispielsweise mit der klugen Forcierung emissionsfreier Fahrzeuge, und bei der Energiepolitik mit der grundsätzlichen, langfristigen Zielperspektive 100 Prozent Erneuerbare Energien weitermachen. Klar ist, dass es ohne konsequenten Klimaschutz keinen Einstieg der Grünen in eine Regierung geben wird.
Ist der Kohleausstieg so ein Punkt?
Der Kohleausstieg ist objektiv ein zentrales Thema für uns Grüne. Denn ohne ihn ist kein wirksamer Klimaschutz möglich. Mit Kohle bleibt Deutschland technologisch im letzten Jahrtausend stecken. Deswegen brauchen wir endlich einen Kohleausstiegsplan, der die Notwendigkeiten des Klimaschutzes genauso ernst nimmt wie die berechtigten Interessen der Betroffenen in den Regionen. Auch hier ist unsere Politik ein Angebot: planbar, verlässlich und geordnet aussteigen oder das Ding vor die Wand setzen. Mit der Düsseldorfer Erklärung haben unsere Landesminister hierfür ein Konzept vorgelegt.
Wie wollen Sie den Kohleausstieg konkret einleiten und wann soll das letzte Kohlekraftwerk spätestens vom Netz, sollten Sie an die Regierung kommen?
Das Wichtigste beim Kohleausstieg ist, dass die schmutzigsten Kraftwerke möglichst schnell vom Netz gehen und ein verbindlicher Kohleausstieg jetzt beschlossen wird. Wenn das Gros durch Erneuerbare Energien ersetzt ist, ist es für die Energiewende nicht mehr ganz so entscheidend, wann das allerletzte Kohlekraftwerk endgültig abgeschaltet wird. Allerdings soll der Ausstieg nicht nur schnell, sondern insbesondere sozialverträglich erfolgen. Wir wollen und müssen die Menschen in den Regionen mitnehmen und zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen, das funktioniert nur beides zusammen.
In der kommenden Legislaturperiode wird die staatliche Förderung für die ersten Ökoenergieanlagen auslaufen; Experten rechnen mit einem starken Einbruch bei der Gesamtinstallation von Wind-, Solar- und Biomasse-Anlagen. Wie wollen die Grünen da wirksam gegensteuern?
Was die Bundesregierung bei der Energiewende gerade so stark abgebremst hat, müssen wir schnell wieder in Schwung kriegen. Die wichtigste Maßnahme ist ein schnelles Ende für den schmutzigen Kohlestrom, der die Netze verstopft und zum Abregeln Erneuerbarer Energien führt. Die Bremsen für die Erneuerbaren müssen weg, den Ausbau von Wind- und Solaranlagen werden wir drastisch anheben. Bürgerenergien und Mieterstrom sollen keine bürokratischen Knüppel mehr zwischen die Beine geworfen bekommen. Stattdessen wollen wir die Direktvermarktung von Ökostrom erleichtern und selbst erzeugten Ökostrom von der Umlage ausnehmen. Die Energiewende muss endlich auch im Wärme- und Verkehrssektor ankommen. Dafür ist der Ausbau von Speichern eine zentrale Voraussetzung.
Der Verkehr ist der einzige Bereich, in dem der Klimaschutz in Deutschland auf der Stelle tritt. Experten sagen: Nur mit einer weiteren Ökosteuer kriegt man die Deutschen zum Umstieg auf umweltfreundlichere Verkehrsmittel. Planen Sie eine Erhöhung der Ökosteuer, sollten die Grünen in die Regierung eintreten?
Für eine wirkliche Verkehrswende ist ein Bündel von Maßnahmen nötig: Verbesserung des ÖPNV-Angebots, Umstieg auf Elektromobilität mit Erneuerbaren Energien, Förderung von Radverkehr und noch einiges andere. Dazu haben wir ganz konkrete Konzepte und Angebote, wie den »Grünen Mobilpass«. Damit wollen wir den öffentlichen Verkehr modernisieren und radikal vereinfachen. Mit dem Mobilpass wollen wir die durchgängige Buchung und Bezahlung ganzer Reiseketten ermöglichen, also Busse, Bahnen, Fähren, Taxis, Carsharing und Leihräder.
Die Ökologische Finanzreform ist ein Baustein der Verkehrswende. Umweltschädliche Subventionen wie für Dieselkraftstoffe, für dicke Dienstwagen oder Flugbenzin wollen wir Schritt für Schritt abschaffen. Anstelle der gescheiterten Kaufprämie der Bundesregierung für Elektroautos fordern wir, ein Bonus-Malus-System in die Kfz-Steuer zu integrieren. Das bedeutet, klimaschädliche Spritschlucker wie die SUVs zahlen eine höhere Kfz-Steuer, während emissionsfreie Elektrofahrzeuge eine Steuergutschrift erhalten, die den Kostennachteil gegenüber einem vergleichbaren Auto mit Verbrennungsmotor aufwiegt.
Sie fordern, ab 2030 nur noch abgasfreie Neuwagen zuzulassen. Wer soll Ihnen das glauben, wenn sogar Ihr einziger Ministerpräsident, Winfried Kretschmann, sich gegen diese Festlegung ausspricht und offen zugibt, privat einen Diesel zu fahren?
Wichtig ist ja nicht, wer jetzt einen Diesel fährt, da gibt es in Deutschland über 13 Millionen. Übrigens alle mit gutem Gewissen gekauft, der Diesel galt ja lange als klimaschonende Alternative. Wichtig ist es, jetzt zu einer umfassenden Transformation der Automobilindustrie zu kommen und da die richtigen politischen Rahmenbedingungen zu setzen. Winfried Kretschmann ist im Übrigen der einzige Ministerpräsident, der sich um diese Transformation einer ganzen Industrie aktiv kümmert. Wir Grünen auf Bundesebene sind im ständigen Dialog mit der Autoindustrie, den Umweltverbänden und der Wissenschaft und haben eine umfassende Roadmap dazu erarbeitet, die mit Nachrüstung dreckiger Dieselautos anfängt und mit dem flächendeckenden Ausbau einer Ladeinfrastruktur für Elektroautos noch lange nicht aufhört.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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