Evolution im Reagenzglas

Wissenschaftler haben die irdischen Bedingungen der Lebensentstehung neu simuliert und in der «Ursuppe» neben Aminosäuren auch RNA-Bausteine gefunden. Von Martin Koch

  • Martin Koch
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Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde«, heißt es in der Bibel. »Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe.« Das Bild, das die Wissenschaft von der Frühgeschichte unseres Planeten zeichnet, sieht anders aus. Nachdem die Erde vor rund 4,6 Milliarden Jahren aus der Verdichtung des Sonnennebels hervorgegangen war, herrschten weder Leere noch Finsternis auf ihrer Oberfläche. Vielmehr wurde diese von unzähligen Asteroiden bombardiert. Durch die dabei freigesetzte Energie sowie die Wärmeproduktion des radioaktiven Zerfalls erhitzte sich die Erde und schmolz großenteils auf. In der Folge kam es zu einer gravitativen Differenzierung des Erdkörpers in einen Erdkern und einen Erdmantel: Schwere Elemente, vor allem Eisen und Nickel, sanken in die Tiefe. Leichte Elemente wie Sauerstoff, Silizium und Aluminium stiegen nach oben und bildeten silikatische Minerale, aus denen unter anderem die Gesteine der Erdkruste bestehen.

Die Zahl der Asteroideneinschläge ging schließlich zurück; die Erde kühlte ab, indem sie Wärme ins All abstrahlte. Der in der Folge einsetzende Vulkanismus führte zu starken Ausgasungen aus dem Erdinneren, so dass eine Atmosphäre entstand, die hauptsächlich Wasserdampf, Kohlendioxid und Schwefelwasserstoff enthielt. Als die Erde ausreichend abgekühlt und ihre Oberfläche teilweise erstarrt war, fiel aus den dichten Wolken der Uratmosphäre ein sintflutartiger Regen. Berechnungen zufolge schüttete es fast 40 000 Jahre lang. Das abgeregnete Wasser blieb auf der abgekühlten Erde liegen und bildete die ersten Flüsse, Seen, Meere und Ozeane.

Laut neueren geochronologischen Untersuchungen geschah all dies bereits vor rund 4,4 Milliarden Jahren. Auf ein solches Alter hat eine Forschergruppe um John Valley von der University of Wisconsin (USA) sogenannte Zirkone datiert, Minerale im magmatischen Gestein, die in Australien gefunden wurden. Sie repräsentieren das älteste bekannte Stück Erdkruste, das vermutlich zur selben Zeit entstand wie flüssiges Wasser. »Unsere Studie bekräftigt die Annahme, dass die Erde bereits vor 4,3 Milliarden Jahren eine Hydrosphäre besaß, in der sich möglicherweise die ersten Lebensformen bildeten«, so Valley. »Eine solche Entstehungsgeschichte könnte auch auf andere lebensfreundliche Planeten im Universum zutreffen.«

Bis heute ist umstritten, wo auf der Erde der Lebensfunke zum ersten Mal zündete. Charles Darwin favorisierte einen »kleinen warmen Teich« voller Ammoniak und phosphorhaltiger Salze, auf den Licht, Hitze und Elektrizität einwirkten. Spätere Generationen von Forschern sprachen etwas despektierlich von der »Ursuppe«, in der sich aus toter anorganischer Materie die ersten Lebensformen bildeten.

Ein wegweisendes Modell hierzu entwickelte in den 1920er Jahren der sowjetische Biochemiker Alexander I. Oparin. Danach bestand die Uratmosphäre hauptsächlich aus Methan, Wasserstoff und Ammoniak und hatte chemisch reduzierende Eigenschaften. Durch äußere Einflüsse wie Blitze, UV-Strahlen und Vulkanausbrüche entstanden erste organische Moleküle, die sich in der Ursuppe sammelten und die Bausteine für die Entstehung des Lebens lieferten.

Von dieser Idee angetan war unter anderem der US-Chemiker Harold Urey, der für die Entdeckung des Deuteriums 1934 den Nobelpreis erhalten hatte. In seinen Vorlesungen an der University of Chicago regte er daher an, die frühen Bedingungen auf der Erde im Experiment zu simulieren. Ein Student griff den Vorschlag begeistert auf: Stanley Miller. »Also ging ich zu Urey und sagte: Ich würde das Experiment gerne durchführen.« Doch plötzlich machte Urey einen Rückzieher und versuchte, Miller das Ganze auszureden - mit der Begründung: Das Experiment werde ohnehin nicht funktionieren. Doch Miller ließ nicht locker, und beide einigten sich schließlich auf eine sechsmonatige Testphase.

In einem Glaskolben brachte Miller Wasser zum Sieden, das gleichsam den brodelnden Urozean seiner Modellerde bildete. Darüber waberte die »Atmosphäre«, ein Gemisch aus Methan, Ammoniak, Wasserstoff sowie dem aus dem Wasser aufsteigenden Dampf. Darin installierte Miller zwei Elektroden. Deren Entladungen sollten urzeitliche Blitze simulieren, die Energie zum Anschub chemischer Reaktionen lieferten.

Schon nach einer Woche hatte der anfangs klare »Urozean« eine dunkelrote Färbung angenommen. Als Miller die Flüssigkeit analysierte, entdeckte er darin Aminosäuren, die für die Bildung von Proteinen, den Struktur- und Funktionsmolekülen des Lebens, unverzichtbar sind. Bausteine von Nukleinsäuren (DNA, RNA) fand Miller indes nicht. Erst 1961 gelang es dem spanischen Biochemiker Juan Oró, aus Zwischenprodukten, die in der Ursuppe entstanden, die Nukleobase Adenin zu synthetisieren. Bis heute wurde Millers Modellversuch vielfach wiederholt und modifiziert. Manche Forscher experimentierten mit einer Uratmosphäre, die reich an Stickstoff und Kohlendioxid war, aber nur geringe Mengen an Methan und Wasserstoff aufwies. Andere benutzten UV-Licht als Energiequelle. Inzwischen ist die Zahl der in verschiedenen Ursuppenexperimenten erzeugten organischen Moleküle kaum noch überschaubar.

Eine Frage ist jedoch geblieben: Wie konnten aus einfachen organischen Bausteinen so lange und komplexe Biomoleküle wie die DNA entstehen? Denn eine wässrige Umgebung bietet dafür denkbar schlechte Voraussetzungen. Um dieses Problem zu umgehen, vermuten manche Forscher, dass die Keime des Lebens im Innern von Kometen auf die noch junge Erde gelangten. Doch die auch als Panspermie bezeichnete Auffassung verschiebt das Problem der Lebensentstehung nur: von der Erde in den Weltraum.

Ein überraschendes Ergebnis erbrachte jetzt ein an Miller angelehntes Experiment, das Forscher um Martin Ferus von der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag durchführten. Die von ihnen nachgebildete Uratmosphäre enthielt Ammoniak, Kohlenmonoxid und Wasserdampf und befand sich über einer Oberfläche aus Tonerde und Wasser. »Bearbeitet« wurde diese Mixtur mit elektrischen Entladungen sowie Schockwellen, wie sie für Asteroideneinschläge typisch sind. Bei den dadurch ausgelösten chemischen Reaktionen, so berichten Ferus und seine Kollegen in der Fachzeitschrift »PNAS« (DOI: 10.1073/pnas.1700010114), entstanden die Verbindungen Formamid und Cyanwasserstoff, die als wichtige Vorstufen für die Synthese von Biomolekülen gelten. Im Verlauf des Experiments konnten die Forscher alle vier Nukleobasen der RNA nachweisen: Adenin, Guanin, Cytosin, Uracil. Über die ersten drei Basen verfügt auch die DNA, lediglich Uracil ist darin durch Thymin ersetzt. Uracil kommt in der RNA vermutlich deshalb vor, weil sich diese Verbindung energetisch leichter herstellen lässt. »Die Ergebnisse unseres Experiments stützen die Idee, dass eine Atmosphäre aus Ammoniak, Kohlenmonoxid und Wasserdampf für die Bildung von Aminosäuren ebenso geeignet ist wie für die Entstehung von RNA-Nukleobasen«, schreiben die Forscher.

Die von ihnen berücksichtigten Asteroiden- oder Meteoriteneinschläge lieferten aber nicht nur Energie für chemische Reaktionen. Sie brachten vermutlich auch biologisch relevante Moleküle auf die Erde. Das ergab die nachträgliche Untersuchung der Proben eines noch von Miller selbst durchgeführten Ursuppenexperiments. Darin identifizierte der US-Chemiker Jeffrey Bada deutlich mehr organische Moleküle, als Miller mit seinen einfachen Analysemethoden hatte nachweisen können. Ein Großteil dieser Moleküle wurde zuvor auch in Meteoriten gefunden. Das lässt den Schluss zu, dass sowohl chemische Zutaten aus dem All als auch irdische Reaktionen in der Ursuppe maßgeblich an der Herausbildung der ersten Lebensformen beteiligt waren.

Nach einer heute von vielen Wissenschaftlern geteilten Theorie standen RNA-Moleküle am Beginn der Lebensentwicklung. Ähnlich wie die doppelsträngige DNA kann auch die aus nur einem Strang bestehende RNA biologische Informationen speichern. Außerdem besitzt die RNA die Fähigkeit, bei chemischen Prozessen als Katalysator zu wirken. Lange hatten Wissenschaftler angenommen, dass nur Proteine eine solche Aufgabe erfüllen können. 1982 jedoch entdeckten Sidney Altman und Thomas Cech mit den sogenannten Ribozymen die ersten RNA-Moleküle mit katalytischer Aktivität. Dafür erhielten beide 1989 den Chemienobelpreis.

Nach der Theorie der RNA-Welt übernahmen Ribozyme oder andere RNA-Moleküle in der Ursuppe die Funktionen sowohl der DNA als auch der Proteine. Sie waren gewissermaßen Ei und Henne in einem. Die ohnehin fragwürdige Annahme, dass so komplexe Moleküle wie Proteine und Nukleinsäuren in der Evolution zufällig zur gleichen Zeit am gleichen Ort entstanden seien, wäre damit hinfällig. Allerdings birgt auch die RNA-Theorie ein ungelöstes Problem: Die im Experiment erzeugten RNA-Stränge weisen derzeit weniger als 100 Bausteine auf. Das ist zu wenig, um die Erbinformation selbst einfachster Lebewesen zu codieren. Mitunter wird hier eine Zusatzhypothese bemüht. Danach existierten auf der frühen Erde bisher unbekannte Proteine, die einigen RNA-Molekülen halfen, größere Längen zu erreichen.

Die Frage, wie das Leben auf der Erde entstand, wird sich wohl nie abschließend beantworten lassen. Nicht einmal die Ursuppe als Entstehungsort ist unumstritten. Manche Wissenschaftler gehen davon aus, dass das Leben an der Oberfläche von Eisen-Schwefel-Mineralen in heißen Tiefseehydrothermalquellen seinen Ausgang nahm. Solche Minerale könnten als eine Art Schablone für die Bildung komplexer Biomoleküle gedient haben. Erst später wanderte das Leben in kühlere wässrige Nischen aus.

Heute gilt dieses Szenario als plausible Alternative zur traditionellen Ursuppen-Theorie. Doch mehr als Plausibilität ist gegenwärtig nicht zu erreichen. Das gilt auch für das RNA-Modell. »Wir werden niemals imstande sein, die Existenz einer RNA-Welt zu beweisen, denn wir können die Zeit nicht zurückdrehen«, sagt der US-Molekularbiologe David Bartel. »Aber wir können die grundlegenden Eigenschaften der RNA untersuchen und sehen, ob sie mit einem RNA-Welt-Szenario kompatibel sind.« Solche Art von Bescheidenheit ist im Grunde jedem Wissenschaftler auferlegt, der versucht, die Geschehnisse in den frühen Epochen der Erdgeschichte zu rekonstruieren.

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