Ein Menschenrecht wird weggesteuert

Günter Burkhardt über den Flüchtlingsdeal zwischen EU und Türkei und das Gutachten eines Sachverständigenrates

  • Günter Burkhardt
  • Lesedauer: 3 Min.

Wir erleben derzeit den härtesten und nachhaltigsten Angriff auf das individuelle Recht auf Asyl in Europa. Flucht muss gesteuert werden, fordert die Politik. Steuerung bedeutet in erster Linie Abschottung. Menschen werden am Zugang zum individuellen Recht auf Asyl in Europa gehindert. Die Weichen dafür wurden bereits 2015 gestellt, als auf den Sommer des Willkommens ein Herbst und Winter der Abschottung folgten. Bereits im Oktober 2015 wurden die Verhandlungen mit der Türkei begonnen, flankierend die Fluchtroute über den Balkan dichtgemacht.

Der EU-Türkei-Deal hebelt das Recht auf Asyl in Europa aus. Flüchtlingen wird der Weg von der Türkei nach Europa versperrt. Nur wenigen gelingt die Flucht. Wer es dennoch schafft, strandet in haftähnlichen Lagern auf den griechischen Inseln. Statt eines fairen Asylverfahrens wurden sogenannte Zulässigkeitsverfahren eingeführt. Darin wird nicht mehr gefragt, ob jemand vor Krieg, Terror und Verfolgung geflohen ist und Schutz braucht. Die entscheidende Frage, die man Flüchtlingen stellt, ist: Warum sind Sie nicht in der Türkei geblieben? Es wird entschieden, ob ein Asylantrag überhaupt in Europa gestellt werden darf oder unzulässig ist. Das ist der Kern des EU-Türkei-Deals und der Abschied vom Recht auf Asyl in Europa. Das Ziel der Befragung ist, Schutzsuchende in die Türkei zurückzuschicken. Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention sowie Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention werden durch den EU-Türkei-Deal systematisch missachtet.

Der Autor

Günter Burkhardt ist Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl.

Und was geschieht in der Türkei? Schutzsuchende werden in von der EU finanzierten Lagern so lange festgesetzt, bis sie ihrer angeblich freiwilligen Ausreise zustimmen. PRO ASYL kennt Berichte von Menschen, die so wieder in Afghanistan oder Irak landeten. Die Türkei entfernt sich mit großer Geschwindigkeit immer weiter von einem Rechtsstaat. Sie ist kein sicherer Drittstaat im Sinne des Asylrechts.

Trotz der menschenrechtlichen Bedenken hält der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) es in seinem Jahresgutachten für »falsch, den mit der EU-Türkei-Erklärung eingeschlagenen Weg pauschal zu verdammen«. Mit dem Verweis des SVR, dass sich mit dem Deal den Flüchtlingen die Möglichkeit zum Resettlement aus der Türkei nach Europa eröffne und damit das Ertrinken in der Ägäis beendet und Menschenleben gerettet würden, werden die fatalen Auswirkungen in Kauf genommen. Es gibt keinen Zugang mehr zu einem individuellen Recht auf Asyl. Nur wenige Auserwählte - und nur syrische Flüchtlinge - werden in Europa aufgenommen.

Mit der angestrebten Reform des EU-Asylrechts, vor allem mit »Dublin IV«, soll das Instrument des Zulässigkeitsverfahrens aus dem EU-Türkei-Deal europaweit eingeführt werden. Künftig sollen alle in Europa ankommenden Schutzsuchenden zunächst nicht mehr nach ihren Fluchtgründen gefragt werden. Stattdessen wird geprüft, über welchen Drittstaat sie in die EU eingereist sind. Wird dieser als genügend sicher eingestuft, droht den Betroffenen die Abschiebung.

Wenn nach diesem Muster weitere Drittstaaten für sicher erklärt werden, wird die Verantwortung für Flüchtlingsschutz auf Länder außerhalb der EU abgewälzt. Das Recht auf Asyl wird den Steuerungsmechanismen der EU-Abschottungspolitik geopfert; es wird regelrecht weggesteuert. Und warum sollten ärmere Staaten individuelle Menschenrechte garantieren, wenn Europa aus dem Asylrecht aussteigt? Es droht die Erosion des internationalen Flüchtlingsrechts.

Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen hatte über Jahre hinweg eine unabhängige, mahnende Rolle in der Begleitung der Politik gespielt. Es ist alarmierend, wenn nun auch bei Wissenschaftlern das Bewusstsein für Menschenrechte schwindet und Menschenrechte staatlichen Interessen untergeordnet und Konzepte entwickelt werden, die die Aushebelung von Menschenrechten zur Folge haben. So drohen Wissenschaftler zur Legitimationsinstanz der Staaten zu werden.

Menschenrechte sind die Grundlage des Zusammenlebens in einer demokratischen Gesellschaft. Sie sind unveräußerlich und nicht relativierbar. Es geht gegenwärtig nicht nur um das Recht auf Asyl, es geht um nichts weniger als um die Grundlagen unseres Zusammenlebens und die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen.

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