Das Gift der Heuchelei
Toni Morrison setzt sich mit den Folgen von Rassentrennung in den USA auseinander
Lula Ann zu stillen war für mich so, als hinge mir ein kleines Negerlein an der Brust.« Das sagt im Buch eine Frau, die von ihrer Herkunft her eigentlich selbst eine Farbige ist. Aber schon ihre Mutter war auf ihren helleren Teint stolz gewesen, darauf, dass sie fast als Weiße gelten konnte und es ihr im Kaufhaus nicht verwehrt wurde, »einen Hut anzuprobieren und die Toilette zu benutzen. Und mein Vater konnte Schuhe im Hauptraum eines Schuhgeschäfts anprobieren, statt im Hinterzimmer.«
Die ersten Seiten in Toni Morrisons neuem Roman machen betroffen. Man hatte ja fast vergessen, dass die »Jim-Crow-Gesetze« zur Rassentrennung in den USA erst in den 1960er Jahren abgeschafft wurden. Dass die Literaturnobelpreisträgerin mit dem Wort »Neger« ein Tabu der »politischen Korrektheit« bricht - der Übersetzer Thomas Piltz folgte ihr darin -, sollte uns vielleicht überhaupt genauer über solche »verbotenen Wörter« nachdenken lassen, von denen es von Jahr zu Jahr mehr zu geben scheint. Sprachregelungen, die erzieherisch wirken, ja, Wirklichkeit verändern sollen, die aber die Realität letztlich übertünchen.
Auf andere Weise kennt man das aus DDR-Zeiten: Es gab jede Menge Euphemismen, beginnend schon mit der Floskel »real existierender Sozialismus«. Und Probleme, welche die Obrigkeit wohl im Auge hatte, aber erst einmal nicht lösen konnte, sollten schon gar nicht zur Sprache kommen. Aber damals nannte man das »ideologisch«, heute scheuen viele sogar schon vor diesem Wort zurück. Also sei es hier offen gesagt: »Political Correctness« passt zur neoliberalen Ideologie. Zu deren Merkmalen gehört es ja, jene Missstände, die letztlich in sozialökonomischen Verhältnissen wurzeln, auf das Feld des individuell Moralischen schieben zu wollen. Abzuschieben, denn würde das Denken zu den Ursachen der Probleme vorstoßen, müsste fragwürdig werden, was doch als unabänderlich, ja ewig erscheinen soll.
Der kapitalistischen Ordnung des Oben und Unten, jenem Widerspruchsgefüge, das grundsätzlich auf Ungleichheit, auf Diskriminierung beruht, wird ein Mäntelchen übergeworfen. Eine Technik der Beschwichtigung, die immer ausgeklügelter wird. Die kleine Oberschicht kann sich sicher wähnen vor sozialem Zorn, wenn die Kämpfe zwischen mehr oder weniger Diskriminierten ausgetragen werden, offen, oder viel häufiger noch, politisch korrekt versteckt, mitunter dem Einzelnen nicht mal wirklich bewusst. Ab- und Ausgrenzung allenthalben, weil jeder sehen muss, wo er bleibt zwischen Aufstiegswünschen und Abstiegsängsten, es sei denn, dass er sich der Konkurrenzgesellschaft verweigern kann.
Was verschwiegen wird, gibt es nicht mehr? Im Grunde handelt Toni Morrisons Roman genau davon. Dass man an Verdrängtem leiden kann, ist ja ein Lieblingsthema der Psychoanalyse. Aber hier hat das Verdrängte deutlich soziale Wurzeln. Besagter Mutter im Roman ist es nicht lediglich ein Rätsel, wie sie mit ihrer helleren Haut so eine pechschwarze Tochter zur Welt bringen konnte. »Man könnte sie für einen Rückfall halten, aber wohin?« Schlimmer noch: Durch dieses Kind droht sie jenen sozialen Status zu verlieren, der ihr bislang Identität gegeben hat. »Manche von euch halten es wahrscheinlich für eine schlimme Sache, dass wir uns in Vereinen, Stadtvierteln und Gemeinden, unter Studentinnen und sogar als Schülerinnen in farbigen Schulen je nach Tönung unserer Haut - je heller, desto besser - zusammenschließen. Aber wie sonst sollen wir uns einen Rest von Würde bewahren?«
Die Tragik ist, dass diese Frau genau diese Würde opfert, sich unter ihre eigenen moralischen Standards duckt, um nicht aufs Spiel zu setzen, was sie für ihre soziale Zugehörigkeit hält. Durch das schwarze Baby fühlt sie sich bedroht, und sie ist es wirklich. Ihr Mann verlässt sie, und sie muss sich eine neue, billigere Bleibe suchen. Mit diesem Kind würde das aber schwierig werden, wie sie weiß, also nimmt sie es nicht mit, wenn sie auf Wohnungssuche geht. Und als sie einen Vermieter gefunden hat, vertuscht sie ein Verbrechen. Schlimmer noch, sie verlangt auch von Lula Ann, es zu vertuschen.
Dabei muss die Kleine sich selbst verleugnet fühlen, denn sie darf ihre Mutter niemals Mama nennen, sondern nur Sweetness. Coldness wäre passender gewesen, denn da gab es keine menschliche Wärme, keine liebevolle Berührung, kein freundliches Wort. Das hat sich das Mädchen nur ein einziges Mal erkauft und bezahlte dafür mit lebenslanger Bedrückung. Zur Schuld durch Verschweigen kam die Schuld durch eine Falschaussage, die eine Lehrerin für 15 Jahre ins Gefängnis brachte ...
Doch dies ist nur einer der Konflikte, die dem Buch Spannung geben. »Zwei starke Frauen, zwei verschiedene Arten, sich zu schützen«, so wirbt der Klappentext. Klar, »starke Frauen« kommen gut an auf dem Buchmarkt. Toni Morrison hat ja durchaus ermutigen und unterhalten wollen - da gibt es auch triviale Passagen, und nach einer immer turbulenter werdenden Handlung wird einem ein Happy End geschenkt. Aber wer in die Tiefe des Romans hinabsteigt, der spürt, wogegen Toni Morrison aufbegehrt: jenes Klima der Heuchelei, in dem Rassismus weiterlebt. Verletzungen und Schuld - wenn jeder nur damit selber fertig werden müsste, wäre es schon schlimm genug. Aber nein, sie werden weitergegeben und führen zu Verstrickungen, die für den Einzelnen schwer zu durchschauen sind, weil er den anderen und auch sich selbst nicht wirklich kennt.
Das ungeliebte Kind steckt der inzwischen erwachsenen schönen Frau noch immer in den Adern, auch wenn sie ihren Namen Lula Ann von sich abgeworfen und zur Mutter nur noch selten Kontakt hat. Sie heißt jetzt Bride, kleidet sich ganz in Weiß, fährt einen Jaguar und hat es in einer Kosmetikfirma - wie genau eigentlich? - ganz nach oben geschafft. Ihre blauschwarze Haut wirkt nicht mehr ausgrenzend, sondern exotisch-attraktiv. Sie ist von Männern umschwärmt. Einen liebte sie, und sie meinte, es sei für immer. Doch plötzlich sagte er: »Du bist nicht die Frau, die ich will.«
Weil sie schwarz war und er weiß, sie reich, er arm? Sie stellt sich Fragen und versteht es nicht. Wie sehr sie sich damit quält, sie spürt es erst an den körperlichen Veränderungen, die sie an sich bemerkt. Als ob sie in die Unsicherheiten ihrer Kindheit zurückgeworfen würde. Also setzt sie sich auf die Spur des Mannes, gerät in Abenteuer, lernt ungeahnte Lebenswelten kennen und erhält am Schluss eine Antwort, die auch den Leser überraschen wird. Und die hat auf eine andere Weise wiederum mit Schuld und Verschweigen zu tun.
Aber da ist Bride schon ganz und gar nicht mehr das furchtsame Kind von einst. Wie auch jener Mann sich wandelt, weil er begreift, welche Last er seit seiner Kindheit mit sich getragen hat und dass er sich endlich davon befreien muss. Diese Lösung mag als literarisches Klischee erscheinen, ebenso wie Brides Ankündigung einer Schwangerschaft am Schluss.
»Gott hilf dem Kind« - der Buchtitel bezieht sich auf das Ungeborene und ist von der 86-jährigen Autorin wohl zugleich in einem umfassenderen Sinne gemeint, was die Zukunft in ihrem Land und in der Welt betrifft.
Toni Morrison: Gott hilf dem Kind. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Piltz. Rowohlt. 204 S., geb., 19,95 €.
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