Kunst ist die beste Medizin
Pascale Marthine Tayou lotet mit einer Ausstellung in der ifa-Galerie die Folgen des Kolonialismus aus
Aus einer langen Seitenwand lässt Pascale Marthine Tayou große hölzerne Pfähle wie Buntstifte kreuz und quer herausragen und ihre bunt bemalten Spitzen bedrohlich in den Raum der ifa-Galerie vorstoßen. So wirkt die Ausstellung »Untie to Tie - Kolmanskop Dream« des 1966 in Kamerun geborenen Künstlers auf den ersten Blick farbenfroh und verspielt. Zwischen all den Pfählen ragen vereinzelt bunte, lang gezogene Figuren aus der Wand. Eine spielerische Variante traditioneller afrikanischer Holzskulpturen von Kunsthandwerksmärkten an der Elfenbeinküste.
Am Boden zieht sich eine schmale Sanddüne an der Wand entlang bis in den hinteren Raumbereich. Im Sand verborgen, stecken glitzernde Objekte, Zierrat unbekannter Funktion, das an Diamanten erinnern soll. Denn die vielschichtige Arbeit wurde, wie der Untertitel erläutert, durch die bekannte namibische Geisterstadt Kolmanskop inspiriert. Kolmanskop, über das es gleich mehrere Internetseiten gibt, verdankt seine Entstehung dem Diamantenboom Namibias zu Anfang des 20. Jahrhunderts und wurde Mitte der fünfziger Jahre verlassen. Heute locken die seither pittoresk versandenden Häuser vor allem schaulustige Touristen an.
An der Stirnwand der Galerie und rechts davon hat Tayou zwei aufwendig gefertigte und geschmückte Masken aus Kristallglas an abgestorbenen Ästen aus Bronze aufgehängt. »Zweige des Lebens« nennt der Künstler die Arbeit, in der er traditionelle afrikanische Machtfiguren mit westlichen Materialien kombiniert. Den dritten Teil seiner Installation bildet eine unterhalb der Decke schwebende Wolke aus NATO-Stacheldraht, unter der man nicht ganz bedenkenlos spaziert. Es ist die Art Stacheldraht mit messerscharfen Spitzen in Form von Widerhaken, mit der Europa derzeit seine Außen- und Binnengrenzen gegen Flüchtende abzuriegeln versucht. Es ist die Art Stacheldraht, die Zäune bekrönt, mit denen sich weltweit »Gated Communities« passiv sichern, um sich gegen Armut und Gewalt abzuschotten.
Der in Rollen produzierte Draht - der der herstellenden Rüstungsindustrie derzeit Milliardengewinne beschert - wird wie eine spiralförmige Ziehharmonika angebracht.
Im Rahmen der Veranstaltungen anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) widmet sich die von Alya Sebti geleitete ifa-Galerie in Berlin ein Jahr lang ausschließlich dem Thema Kolonialismus und nimmt seine Folgen und auch sein Fortwirken genauer in Augenschein. Ziel ist es, bildlich gesprochen, die Finger in die Wunden zu legen, um den Heilungsprozess anzuregen oder auch zu beschleunigen. Und die wirksamste Medizin dazu scheinen Kunst und Kultur zu sein.
Tayou, der sowohl in Gent als auch in Yaoundé lebt und somit in höchst unterschiedlichen Kulturen zu Hause ist (Kamerun entstand mit der Unabhängigkeit des einst deutschen Französisch-Kameruns 1960 und dem Anschluss des zuvor britischen »Southern Cameroons« per Volksentscheid 1961), macht den Auftakt und kreiert in seiner Ausstellung ein Tableau aus nur scheinbar spielerisch verwendeten Insignien von Machtausübung und passiv ausgeübter Gewalt. Diese wurden aber nicht nur zu Zeiten des Kolonialismus angewendet. Tayou, der 2002 auf der ersten »wirklich globalen documenta« von Okwui Enwezor vertreten war, ist ein Geschichtenerzähler, der Bestandteile verschiedener Kulturen vermischt und mit der Erwartungshaltung der Betrachter spielt: Je genauer man hinschaut, desto mehr Fragen tauchen auf.
Auch der Titel »Untie to Tie« formuliert ein scheinbares Paradox: Entknote etwas, um es zusammenzubinden. Gemeint ist damit die Dekonstruktion eingefahrener Denkmuster, die den strukturellen Rassismus in vielen Staaten bedingen. Diesen Rassismus zu überwinden, ist schwer, zumal er im kollektiven Unbewussten verankert ist. Was kann helfen? Die Sichtbarmachung und Verankerung der fundamentalen Überzeugung, dass sich alle Menschen dieselben Wurzeln teilen, also im Sinne des Dichters und Philosophen Edouard Glissant global verbunden sind.
Diese Idee des solidarischen »Graswurzelprinzips« klingt auch in dem Video »Complementare« von Bianco-Valente an, das im »Center of Unfinished Business« läuft, einem die Ausstellung begleitenden Medienraum mit Büchern, Filmen und Hörstation. Der kurze Film zeigt vier weiße Hände. Zwei zeichnen blaue Linien auf die Handinnenflächen der beiden anderen Hände. Das Liniengeflecht wird dann auf den umgebenden Raum ausgeweitet. Am Ende verschwinden die Hände, das blaue Liniengeflecht als Abbild der Vernetztheit des Lebens bleibt.
»Untie to Tie - On Colonial Legacies and Contemporary Societies«, bis zum 11. Juni in der ifa-Galerie, Linienstraße 139/140, Mitte
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!