Schimmelmenschen
Theatertreffen: Das Schauspiel Leipzig zeigt die Romanadaption »89/90« unter der Regie von Claudia Bauer
Entmachtung ist die Voraussetzung für Erleuchtung. Gilt für jede Herrschaft. Dass die Kommunisten der DDR 1989 zum Teufel, also nach Deutschland, gejagt wurden, war ein Segen. Nicht für schüchterne Geister, die mit dem Ende einer eingefleischten Gesellschaftsstruktur immer gleich an allem zweifeln. Ein Segen aber für jene, die mit dem Scheitern des Staatssozialismus endlich hellsichtig werden, also aufwachen durften - aus dieser DDR-Simulation: Alles geht vorwärts, alles geht aufwärts; wir leben im besseren Land, und der großartige soziale Grundanstrich schafft den »neuen« Menschen.
Der Segen der sogenannten Wende, die ein Zusammenbruch, ein Ausbruch, ein Aufbruch war - er bestand in einer heilsamen, spannenden Ankunft: in der Unwägbarkeit der Existenz. Im wahren Lebens- und Geschichtsgesetz: Nichts ist absehbar, Zukunft ist ein Würfelspiel. Immer bleibt ungewiss, was aus einem Anfang wächst. Wir sitzen alle in einem Boot, aber es kommt der Moment, da erschrecken oder staunen wir: Jeder rudert in eine andere Richtung. In Peter Richters Roman »89/90« gerann das zu einem treffsicheren Satz. Ein Satz der Erfahrung - auf dem Wege von Ost nach West: »Hätte man damals schon sagen können, wer eines Tages wem einen Baseballschläger über den Kopf hauen würde?«
1989, 1990. Deutsche Zwischenzeit, erinnernd an Brecht: »Das Chaos ist aufgebraucht, es war die schönste Zeit.« Claudia Bauer inszenierte am Schauspiel Leipzig eine Fassung von Richters Roman, die sie gemeinsam mit Matthias Huber schrieb. Die Aufführung springt lustvoll in die schiere Uferlosigkeit eines literarischen Panoramas. In einem Zimmer hinter der Bühne, beobachtet von einer Live-Kamera, sitzen der Ich-Erzähler und sein Freund, blättern in einem Fotoalbum und erinnern sich an den letzten Sommer der DDR. Ein Leben - man war sechzehn - zwischen Vorsicht und Verdruss, zwischen kaltem Lippenbekenntnis und ungelenk heißem Underground. Eingefangen in einer Fülle von Episoden, gespielt vom Ensemble mit Schaumstoffbäuchen und großen Puppenköpfen. Mauerfall. Erster Ausflug nach Westberlin und so weiter. Eine liebevolle Erinnerungsfarce im Trockeneisnebel, aber auch ein mahnender Blick auf das Klopfen des Unheils unter dem Festboden des Zivilen: Der Seelenkahlschlag lauert überall, und er liefert das Holz für die besagten Baseballschläger.
Das Anrührende an Richters Buch über das Abendlicht der DDR ist der ehrfurchtslose Ton, der sich aber nie an den lockenden Möglichkeiten der Häme bedient. Den genau trifft Bauers Inszenierung: Komik ohne Zynismus, Ernst ohne Ostalgie. So ist die Freundin des Erzählers eine lupenreine Kommunistin, sie trägt eine DDR-Flagge als Kleid, und die große Trauer über das verschwindende Land darf ungeschützt aufklingen, ohne dass Ironie dazwischenführe: »Die Schimmelmenschen stehen jetzt in den Sexshops. Soll das etwa der aufrechte Gang sein?«
Zentrum der Szenerie unterm Videoscreen ist die Schulklasse des Erzählers: ein Chor - der im braun getäfelten Bühnenbild von Andreas Auerbach an den öden Schick einer Aula erinnert, die bereit wäre, sich in eine Stätte für geistfreien Partei- und Gewerkschaftsprotz zu verwandeln (Komposition und musikalische Leitung: Peer Baierlein, Chorleitung: Daniel Barke). Pionierlied trifft Feeling B, Kampflied auf Klassik. Bauer setzt auf berückende Weise die Statusrituale einer festgezurrten Gesellschaft in quirlige chorische Choreografien um. Die Phrase der ideologischen Schulung (eine Lehrerrede etwa besteht am Ende nur noch aus einer Sinnlosschleife von Vokalen), das Schnarren der Wehrerziehung, der Ton der Bevormundung, die Dumpfheit des parteilichen Selbstbetrugs (»Was soll ich in Paris, ich fahre lieber nach Prag«) - das schiebt sich listig, lustig in Gesang und Tanz, Parolen werden zerträllert und zertanzt, als lade der Dadaismus zu einem Kurkonzert der schönsten Dissonanzen ein.
Was zunächst einstudierte Gruppendisziplin ist, wird mit der Wende zum auflebenden Energiefeld ganz anderer Lebenswünsche. In den folgsam singenden Kollektivismus des Chores wird eine andere Stimmlage hineinplatzen: »Freiheit! Ficken!« Helmut Kohl war hereingeschwebt, eine wahrlich aufgeblasene Figur: eine Abrissbirne der massenhaften Aufmunterung. Das Staatsende riss den Himmel über vielen Köpfen auf, aber es riss auch Boden unter den Füßen weg. Doch Ungewissheit in Freiheit, daran lässt der Abend keinen Zweifel, ist mehr wert als langweilige Gewissheit in Unfreiheit. Freilich: Der aufgedrehte Chorleiter (Daniel Barke) wird sich lediglich in neue Schale werfen, der Chor auch, gesungen aber wird weiter: gleich laut, gleich vehement - nur jetzt ganz andere Lieder. Chorgeist schafft Korpsgeist. Auch Techno donnert. Alle stecken wieder unter Pappköpfen: Jeder ist anders - austauschbar.
Ein Staat ging ein, ging in einen anderen über, aber noch immer wächst er als janusköpfiger Untoter vervielfacht aus den Erinnerungen, und jeder baut sein Mäuerchen aus Ausrufezeichen drum: So war’s damals, und nicht so! Wahrer Gewinn wäre, die eine Sicht nicht als Argument gegen eine andere zu benutzen. Also: einander auszuhalten. Das ist der Botschaftskern dieser Inszenierung, die in präzise rollendem Rhythmus die Unbekümmertheit des Wendebeginns zerschlägt, den Kampf zwischen Punks und Skinheads aufruft und Lebensspuren in die neuerliche Anpassung, ins Bordell oder in den rebellischen Ungehorsam verfolgt. Wenzel Banneyer - einfühlsam, sympathisch und von souveräner Art, das Denken mit dem Reden zu verbinden - sagt als Erzähler: »Wir waren die Linken, weil die die Rechten waren.« Kraft schafft Gegenkraft. Neues Leben schützt vor alten Mustern nicht.
Der großartige Abend jagt. Drei Stunden Collage, aber als Sprint gedacht - und gespielt. Claudia Bauer offenbart einen starken langen Atem für schnelle Bilder. Reflexion ist hier wie der Becher Wasser beim Marathon: Zwischen den Verpflegungsständen liegt eine beträchtliche Strecke. Dann rasch weiter! Die Ereignisse drängen. So war das doch damals. Begonnen hatte der Erinnerungsreigen mit einer Reminiszenz an gemeinsame Stunden im Schwimmbad. Die Schwimmbewegung der acht Spieler wird sich durch die Inszenierung ziehen. Leben gegen den Strom? Ziehen mit dem Strom? Rudern auf dem Trockenen? Steht das Wasser bis zum Hals? Gehen wir unter in der Sündflut? Der Trockeneisnebel verschluckt nicht die Wahrheit: Immer bunter wird die Welt. Immer bunter, das wird (wieder) grau.
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