Die Rentiers einschläfern

Michael Hudson analysiert und klagt die globale Finanzwirtschaft an

  • Jörg Roesler
  • Lesedauer: 3 Min.

Bei einem Blick auf den Titel des Buches vermutet man eine kritische Analyse der gegenwärtigen Finanzprobleme weltweit. Die bietet Michael Hudson tatsächlich. Darüber hinaus aber auch einen Abriss der Aktivitäten der Finanzoligarchien und deren Folgen für die Volkswirtschaften von der Antike bis zur Gegenwart. Die Geschichte der Weltfinanzen dient dem US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler, Finanzanalysten und Berater an der Wall Street, der gleichzeitig der Occupy-Bewegung angehört, als Argumentationsgrundlage für seine Wirtschaftstheorie. Diese lässt sich folgendermaßen skizzieren:

Das Schicksal eines Landes wird von zwei Arten wirtschaftlicher Systembeziehungen bestimmt. Bei der einen handelt es sich um den Kreislauf von Produktion und Konsum, den Einsatz von Arbeitskräften, Produktionsmitteln und technologischem Potenzial. Diese materiell greifbare Form der Wirtschaft nennt er Wirtschaft Nr. 1. Die materielle Ökonomie ist von einem juristischen und institutionellen Netzwerk aus Krediten und Schulden, Vermögensverhältnissen und Eigentumsprivilegien umgeben, von Hudson die Wirtschaft Nr. 2 oder auch »Sektor« genannt, bestehend aus dem Finanz-, Versicherungs- und Immobilienbereich. Die diesen Wirtschaftsbereich beherrschende Finanzoligarchie verleiht Geld. Das Monopol der Kreditvergabe nutzen die »Oligarchen«, um die Preise für die Güter in die Höhe zu treiben. Die Zurückzahlung derartiger Kredite mitsamt ihrer Zinsen verringert das Lohn- und das Profiteinkommen, das für Konsum- und Investitionsgüter zur Verfügung steht. Der Schuldendienst lässt Märkte, Konsumausgaben, Beschäftigung und Löhne schrumpfen. Die von den Gläubigern als Sicherheit geforderten bzw. diktierten Sparprogramme erschweren letztlich die Rückzahlungsfähigkeit der schrumpfenden Realwirtschaft. Zur Begleichung fälliger Schulden müssen seitens der Akteure der Wirtschaft Nr. 1 weitere Kredite aufgenommen werden. »Die Schulden wachsen exponentiell - also wesentlich schneller als die Fähigkeit einer Volkswirtschaft, die Schulden auch zurückzuzahlen.«

Zinsen und ökonomische Renten sind demnach Transferleistungen von Wirtschaft Nr. 1 an Wirtschaft Nr. 2. Die herrschende ökonomische Meinung, schreibt Hudson, ignoriert diesen ökonomischen Parasitismus. »Die Existenz eines Schmarotzertums wird weder erkannt noch anerkannt.« Da sei die klassische bürgerliche Ökonomie des 18. und 19. Jahrhunderts, von Adam Smith über David Ricardo bis John Stuart Mill, schon weiter gewesen. Die klassische Wert- und Preistheorie vertrat die Auffassung, eine Besteuerung der Einkommen des Finanzkapitals schade dem Wirtschaftswachstum nicht. Denn man schöpfe mit ihr nur einen Teil des Gewinns der Finanzkapitalisten ab. Teile der Infrastruktur sollte man besser gar nicht in private Hände geben.

In die gleiche Richtung argumentierte im 20. Jahrhundert der Wachstumstheoretiker John Maynard Keynes. Er forderte die »Einschläferung der Rentiers«, wenn man dem Industriekapitalismus zum Erfolg verhelfen wolle. Warum sind derartige Erkenntnisse der wirtschaftswissenschaftlichen Schulen heute vergessen? Auch die linken Parteien, so Hudson, hätten weitgehend kapituliert. Er beklagt die Unterwürfigkeit Europas gegenüber den neoliberalen Strategen aus den USA und schildert detailliert und kenntnisreich die ökonomischen und sozialen Folgen unzureichenden Widerstands am Beispiel Lettlands für den osteuropäischen und Griechenlands für den südeuropäischen Raum. Der Wirtschaftstheoretiker Hudson beruft sich dabei immer wieder auf den Wirtschaftshistoriker Hudson für die Beweiskraft seiner Thesen.

Gibt es eine Alternative? Durchaus, meint Hudson. Diese sei in der Geschichte vorgezeichnet. Wiederholt habe es in einer desaströsen Wirtschaftslage seitens an die Macht gelangter reformerischer Kräfte dramatische Schuldenschnitte gegeben, die der Zerstörung von Wirtschaft und Gesellschaft Einhalt geboten und aus der Misere herausgeführt hätten. Warum nicht auch jetzt?

Michael Hudson: Der Sektor. Warum die globale Finanzwirtschaft uns zerstört. Klett Cotta. 670 S., geb., 26,95 €.

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