Amri: Geisel verspricht Aufklärung
Behördenversagen und Vertuschungsverdacht war Thema im Abgeordnetenhaus
Das Abgeordnetenhaus hatte mit Billigung aller Fraktionen am Donnerstag die für die Aktuelle Stunde ursprünglich vorgesehenen Themen gekippt. Mit höchster Dringlichkeit auf die Tagesordnung gesetzt, ging es einzig um »Neue Erkenntnisse im Fall Amri«. Stand doch seit Mittwochnachmittag der Vorwurf im Raum, Beamte des Berliner Landeskriminalamtes hätten Ermittlungsakten im Fall des Tunesiers Anis Amri nach dessen verheerenden Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz manipuliert. Geschehen sei das womöglich mit der Absicht, so der Verdacht, Behördenfehler im Vorfeld des Terrorakts zu vertuschen.
Der Innensenator, der am Vortag Strafanzeige gegen Mitarbeiter des Landeskriminalamtes wegen Strafvereitelung im Amt gestellt hatte, kündigte die rückhaltlose Aufklärung der Vorwürfe an. »Das sind wir den Opfern, den Angehörigen und den Überlebenden des Anschlags vom Breitscheidplatz schuldig«, sagte der SPD-Politiker. »Wir können kein Interesse daran haben, dass irgendetwas verschleiert wird.«
Geisel hatte zu Beginn erklärt, dass er weiterhin Vertrauen in die Berliner Polizei als Behörde setzte. Dies gelte ungeachtet des Fehlverhaltens einzelner Mitarbeiter. Doch es seien Strukturen zu hinterfragen, auch sei die Ausstattung zu verbessern, und bei notwendigen Konsequenzen dürfe auch nicht gezögert werden. »Doch wir sind im Grundsatz gut beraten, zu den Frauen und Männern zu stehen, die im Einsatz für unsere Sicherheit sind.« Dennoch müsse die Statik der Sicherheitsstruktur immer wieder überprüft werden.
Der Senator bezeichnete die mit großer Mehrheit beschlossene Einsetzung eines Sonderbeauftragten zur Untersuchung der Hintergründe des Attentats vom 19. Dezember 2016 als richtige Entscheidung. Der erste Ermittlungserfolg des ehemaligen Bundesanwalts Bruno Jost habe das eindrucksvoll bestätigt. Das von ihm entdeckte, elektronisch gespeicherte Dokument lege die Erkenntnisse nahe, dass die Behörden Amri bereits vor dem Attentat wegen gewerbs- und bandenmäßigen Drogenhandels hätte festnehmen können. Zu diesem Vermerk des Landeskriminalamtes vom 1. November 2016 sei am 17. Januar 2017 - also nach dem Anschlag - unter dem selben Aktenzeichen und mit dem selben Datum ein weiterer Vermerk erstellt worden. In diesem der Ermittlungsakte beigefügt Papier ist nur noch von »Kleinsthandel« mit Drogen die Rede. Dies hätte eine Verhaftung nicht gerechtfertigt. Daneben verwies aber auch die Berliner Generalstaatsanwaltschaft am Donnerstag darauf, dass sie die Polizei am 20. Oktober 2016 aufgeforderte hätte, erneute Ermittlungen gegen Amri einzuleiten. Grund seien aus einer Telefonüberwachung gewonnene Erkenntnis über einen gewerbsmäßigen Drogenhandel des Tunesiers gewesen.
Da damit alle Anzeichen auf einen Fall von Strafvereitelung im Amt sowie weitere Dienstvergehen bestehen, habe er Strafanzeige sowie disziplinarrechtliche Schritte eingeleitet, so Geisel. Nicht zuletzt angesichts des Terroranschlags mit zwölf Todesopfern und mehr als 60 schwer Verletzten müsse dieser Vorgang Konsequenzen haben.
Der SPD-Innenexperte Frank Zimmermann versprach ein größtmögliches Tempo und Transparenz bei der Aufklärung des im Raum stehenden Verdachts. Viele Fragen seien zu klären, wie zum Beispiel, ob es bei der Observierung Amris vorwerfbares Fehlverhalten gab. Angesichts der Vertuschungsvorwürfe in Richtung LKA betonte er: »Wir müssen personelle und strukturelle Defizite im LKA schnellstmöglich aufdecken und auf den Tisch dieses Hauses bringen.«
Geisel wie auch die Innenexperten der Fraktionen, neben Zimmermann auch Hakan Taş (Linkspartei), Stephan Lenz (CDU), und Benedikt Lux (Grüne), verwiesen darauf, dass der schnelle Ermittlungserfolg in erster Linie der effektiven Tätigkeit des Sonderbeauftragten zu verdanken sei. Die vor allem von FDP und AfD stattdessen geforderte Einsetzung eines Untersuchungsausschusses hätte eine zu lange Anlaufphase benötigt, argumentierten sie. Grünen-Politiker Lux forderte in der aktuellen Situation den Konsens aller Abgeordneten ein. »Der Sonderbeauftragte und der Innensenator, der in der Sache ja nichts zu Verbergen hat, brauchen jetzt alle Unterstützung«, sagte er. Die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses bleibe eine Option.
Für die Linksfraktion stellte Hakan Taş klar, dass der Ermittlungsskandal im Fall Anis Amri kein Skandal des rot-rot-grünen Senats sei. Der von SPD, LINKE und Grünen gebildete Senat sei erst seit Dezember 2016 im Amt. Die Vorwürfe fielen in die Verantwortlichkeit des damaligen Innensenators Frank Henkel (CDU), der von ihm geschaffenen Strukturen und seines Personals - darunter Polizeipräsident Klaus Kandt. »Was hat eigentlich Polizeipräsident Klaus Kandt bisher getan«, fragte Taş.
Eine konsequente Reaktion, wenn sich die Vorwürfe bestätigen sollten, verlangte auch der CDU-Abgeordnete Lenz. »Vertuschung durch den Berliner Staatsschutz - wenn das im Raum steht, dann brennt die Hütte beim LKA«, sagte er. Lenz forderte eine Sondersitzung des Abgeordnetenhauses und die Fortsetzung der Arbeit des Sonderermittlers.
Sein Fraktionskollege Stefan Evers wies die Vorwürfe von Taş an die Adresse der CDU und deren Vertreter im vorigen Senat als »politischen Klamauk« zurück. Doch auch FDP-Mann Marcel Luthe warf Rot-Schwarz und den für Inneres und Justiz zuständigen Senatoren vor, personelle und strukturelle Defizite bei der Ausstattung von Staatsanwaltschaft, Justiz und Polizei zugelassen zu haben. Der rot-rot-grüne Senat dagegen habe die Verantwortlichkeit im Fall Amri seit mehr als 150 Tagen lediglich im Kreis herumgereicht. Dies sei »politische Hütchenspielerei«, Luthe.
Die Vorwürfe gegen Berliner Ermittlungsbehörden sorgten bundesweit für Entsetzen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sprach von einem »unerhörten Verdacht« und verlangte, dass »jetzt sehr gründlich und sehr offen aufgeklärt wird«. Thomas Oppermann, SPD-Fraktionschef im Bundestag, erklärte: »Ich habe immer gesagt, dass bei Amri überall in Deutschland schwere Fehler gemacht wurden.« Die Grünen-Obfrau im Amri-Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags, Monika Düker, sprach sich für einen Bundestagsuntersuchungsausschuss aus.
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