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Berlin: Kürzungen, die krank machen
Senat erhält das »Goldene Mammut« für rückwärtsgewandte Sozialpolitik
Menschen mit Panikattacken, Menschen mit Suizidgedanken, Menschen mit Suchterkrankungen – diese und viele weitere Menschen werden nach Angaben der Wohlfahrtsverbände von Kürzungen des Berliner Senats im Jahr 2025 sowie 2026/2027 betroffen sein. Um sich dagegen zu wehren, ruft die Berliner Liga der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege zu einer Kundgebung am Dienstag vor den Senatsverwaltungen für Soziales und Gesundheit auf. Sie will dort den Negativpreis des »Goldenen Mammut« an den Senat verleihen. Betroffen von den Kürzungen seien unter anderem der Berliner Krisendienst, die Kontakt- und Beratungsstellen sowie die Sucht- und Krisenhilfen. »Wer diese Hilfen kürzt, verursacht hohe Folgekosten, überfordert das jetzt schon stark belastete Gesundheitssystem und lässt Menschen in Krisen allein«, sagt Gabriele Schlimper, Geschäftsführerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Berlin.
»Wir müssen damit rechnen, dass für 26/27 mindestens zehn bis 15 Prozent des Budgets gekürzt werden«, sagt Uwe Brohl-Zubert, Referent für soziale Psychiatrie und queere Lebensweise beim Paritätischen, zu »nd«. Das würde signifikant die Öffnungszeiten beeinflussen und die Verbände dazu zwingen, Einrichtungen zu schließen.
Der Berliner Krisendienst ist eine wichtige Anlaufstelle in der Hauptstadt. Er half zum Beispiel Clara und Amber. Beide wollen ihre Nachnamen nicht in der Zeitung lesen. Es sei wichtig, Zugang zu einer neutralen und fachlichen Anlaufstelle zu haben, insbesondere wenn man mit Freunden über solche Themen nicht sprechen könne, sagt Clara zu »nd«. »Ich habe in verschiedenen Phasen auf den Krisendienst zurückgegriffen.« In ihren Zwanzigern litt sie unter Panikattacken und Depressionen, was zu akuten Krisenzuständen geführt habe. Das Telefongespräch half ihr, in Krisensituationen klarzukommen. Amber litt unter Suizid- und Selbstverletzungsgedanken und hatte den Krisendienst vor Ort besucht. Gemeinsam mit dem Team konnte sie einen Plan für die folgenden Tage entwickeln.
Menschen, für die Krisen zu einem Normalzustand geworden sind, finden Unterstützung bei den Kontakt- und Beratungsstellen (KBS). Ohne Anmeldung können sie hier Beratung und Betreuung erhalten. Jörg Schmidt ist seit zehn Jahren einer der regelmäßigen Besucher. Seit seiner frühen Jugend leidet er unter Depressionen, später kam noch eine Sozialphobie hinzu, sagt er zu »nd«. Die KBS ermöglichen es ihm, herauszukommen und unter Leuten zu sein, denen es ähnlich geht. Schmidt ist überzeugt, dass sein Lebensweg anders verlaufen wäre, wenn es KBS schon in seiner Jugend gegeben hätte. »Ich glaube, das hätte vieles für mich verändert.« Stattdessen musste er mehrere Male als junger Erwachsener die Psychiatrie aufsuchen. »Ich wäre mit Sicherheit wieder in der Psychiatrie gelandet, wenn es nicht die KBS gegeben hätte.«
»Es kommt mir so vor, als wären wir die vergessenen Menschen. Dabei kann jeder erkranken.«
Jörg Schmidt
Besucher der Kontakt- und Beratungsstellen
Schmidt beobachtet die Kürzungspläne des Senats mit Sorge. Er habe selbst Suizidgedanken gehabt und befürchtet, dass die Suizidrate durch die Kürzungen steigen wird. »Es kommt mir so vor, als wären wir die vergessenen Menschen. Dabei kann jeder erkranken.« Das bestätigte auch das Berliner Bündnis Psychische Gesundheit: Allein in Berlin verursachen psychische Störungen wie Burnout, Depressionen, Angststörungen und Suchterkrankungen seit 2021 die meisten krankheitsbedingten Fehltage.
Der Abbau niedrigschwelliger Angebote führe zu einer »Verschlechterung und Chronifizierung individueller Krankheitsverläufe«, so das Bündnis in einer Stellungnahme zu den Kürzungsplänen. Kürzungen würden keine Kosten senken, »sondern im Gegenteil zu Mehrausgaben in anderen Bereichen des Hilfesystems, zum Beispiel in den Notaufnahmen der Kliniken, führen«.
Die Gesundheitsverwaltung macht auf Anfrage von »nd« keine Angaben zu etwaigen Kürzungen in 2025, 2026 und 2027. Man könne auf die intern stattfindenden Gespräche nicht vorgreifen, teilt Pressereferent Oliver Fey mit. »Die senatsinternen Klärungen dazu werden voraussichtlich erst im Juli erfolgt sein, wenn der Senatsentwurf zum Doppelhaushalt 2026/2027 vom Senat beschlossen wird.«
Der Berliner Krisendienst bietet kostenlos, anonym und rund um die Uhr professionelle Beratung. Wenn Sie sich in einer akuten Krise befinden, wenden Sie sich bitte an Ihren behandelnden Arzt oder Psychotherapeuten, die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter 112.
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