Entlassungen in der Türkei: »Kein Ende in Sicht«

Neuer Amnesty-Bericht zu Folgen des Putschversuchs im öffentlichen Dienst / Erdogan geht gegen Zeitung »Sözcü« vor

  • Lesedauer: 3 Min.

Ankara. In einem neuen Bericht dokumentiert Amnesty International massenhafte »willkürliche Entlassungen« von Staatsbediensteten in der Türkei. Seit dem Putschversuch im Sommer vergangenen Jahres seien mehr als 100.000 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes entlassen worden, darunter Justizmitarbeiter und Angehörige der Streitkräfte, schrieb die Menschenrechtsorganisation am Montag in einem Bericht mit dem Titel »Kein Ende in Sicht«.

Keiner der Betroffenen habe eine Begründung für seine Entlassung erhalten »jenseits allgemeiner Vorwürfe«, wie sie in den nach dem Putsch erlassenen Dekreten formuliert seien, darunter etwa die angebliche »Verbindung zu terroristischen Organisationen«. Seit dem Putschversuch wurden per Notstandsdekret demnach insgesamt mehr als 33.000 Lehrer und andere Angestellte im Bildungswesen sowie insgesamt über 24.000 Polizisten und Mitarbeiter des Innenministeriums entlassen. Stark betroffen sind auch das Justizwesen und andere Ministerien.

Nur 1300 entlassene Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes seien seitdem wiedereingestellt worden. Offenbar vor allem, weil sich lokale Gouverneure und Politiker persönlich für diese eingesetzt hätten. Bis zum September 2016 habe es 45.000 Berufungsanträge durch entlassene Mitarbeiter gegeben. Mittlerweile dürfte die Zahl deutlich höher sein. Weder lokale Gerichte, noch das Verfassungsgericht sehen sich zuständig. Das oberste Gericht erklärte nicht über die Verfassungsmäßigkeit der Entlassungen urteilen zu können, weil die Türkei sich im Ausnahmezustand befindet.

Amnesty prangert in dem Bericht zudem an, dass einige der Maßnahmen, darunter der Ausschluss von Betroffenen von jeglicher Betätigung im öffentlichen Dienst oder die Einziehung von Pässen selbst dann gravierende Rechtsbrüche darstellten, wenn Entlassungen gerechtfertigt seien. Die Menschenrechtsorganisation stützt sich auf 61 Interviews, darunter mit 33 entlassenen Staatsdienern, außerdem auf Angaben von Vertretern türkischer Behörden, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen sowie von Anwälten.

Die türkische Regierung geht seit Monaten gegen mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung vor. Ankara macht die Bewegung des in den USA lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen für den gescheiterten Militärputsch im Juli 2016 verantwortlich.

Regierung will offenbar kritische Zeitung »Sözcü« übernehmen

Ebenfalls bekannt wurde am Montag, dass die türkische Regierung offenbar die auflagenstärkste regierungskritische Zeitung der Türkei übernehmen will. Der Herausgeber der Zeitung »Sözcü«, Burak Akbay, befürchtet einen solchen Schritt. »Sie wollen die Zeitung kontrollieren, weil sie Angst vor ihr haben«, sagte Akbay am Montag. Er ist in der Türkei zur Festnahme ausgeschrieben. Die von ihm 2007 gegründete »Sözcü« versteht sich als strikt säkular und als Verfechter der Prinzipien von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk.

Am Freitag - an dem in der Türkei der Atatürk-Gedenktag begangen wurde - waren zwei »Sözcü«-Mitarbeiter in Polizeigewahrsam genommen worden. Ihnen und dem in London lebenden Besitzer der Zeitung werden Straftaten zugunsten der Gülen-Bewegung vorgeworfen. Abbay wies die Vorwürfe als »konstruiert« zurück. Seine Zeitung habe seit ihrer Gründung vor der Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen gewarnt.

Als Reaktion auf die Festnahmen der »Sözcü«-Mitarbeiter war die Zeitung am Samstag mit leeren Seiten erschienen. Nur auf dem Titelblatt stand als Überschrift: »19. Mai Spezialausgabe zur Pressefreiheit«. Nach Angaben der Zeitung wurden von der leeren Ausgabe deutlich mehr Exemplare verkauft als an gewöhnlichen Tagen. Agenturen/nd

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