Lückenhafte Wahrnehmung

Notizen zum Umgang der deutschen Presse mit der politischen Entwicklung in Venezuela

  • Ute Evers
  • Lesedauer: 3 Min.

Über Venezuela oder vielmehr die aktuelle Situation des südamerikanischen Landes kann sich heute jeder Zeitungsleser, Fernsehzuschauer oder Radiohörer in Deutschland eine Meinung bilden. Es wird berichtet, kommentiert, interviewt, analysiert, ja vorausgesagt! Ob über Auslandskorrespondenten direkt vor Ort, über Presseagenturen oder private venezolanische Tageszeitungen - es gibt kaum ein deutsches Pressemedium, das nichts über Venezuela zu erzählen hätte. Die Bolivarische Republik hält die Blätter in Aufruhr.

Der deutsche Schriftsteller und Journalist Joseph Görres hatte im »Rheinischen Merkur« inmitten der Befreiungskriege gegen das napoleonische Frankreich die Freiheit der Presse gefordert. Mehr als 150 Jahre später analysierte der US-amerikanische Philosoph und Linguist Noam Chomsky in seinem Essay »Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen« die Rolle der Akademiker und etablierten Journalisten während des Vietnamkriegs. Er schlussfolgerte, »dass es in der Tat so etwas wie einen Konsens unter den Intellektuellen gibt, die bereits zu Macht und Wohlstand gekommen sind oder glauben, dass sie beides erreichen können, wenn sie die ›Gesellschaft annehmen‹, wie sie ist, und die Werte fördern, die in dieser Gesellschaft ›hochgehalten‹ werden.« Knapp 50 Jahre später veröffentlichte im vergangenen Jahr der deutsche Publizist Ulrich Teusch das Buch mit dem aussagekräftigen Titel: »Lückenpresse - Das Ende des Journalismus, wie wir ihn kannten«.

Je nach politischer Couleur vermitteln die deutschen Tageszeitungen in unterschiedlicher Entschiedenheit das Bild des venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro als diktatorischer Staatsmann. Er regiere über Dekrete an der Nationalversammlung vorbei und wollte diese gar entmachten, so die fast einstimmige Argumentation. Vielleicht sollte man sich die allgemeingültige Definition von Diktatur noch einmal vor Augen führen, um etwas Ordnung in die Sache zu bringen: Eine Diktatur ist dadurch charakterisiert, dass sie die Gewaltenteilung übergeht, die eingeschränkten Befugnisse von Militär, Justiz, Polizei und staatlichen Behörden missbraucht; kein Schutz der Grundrechte stattfindet, Einzelne oder Minderheiten entrechtet werden, eine Verletzung der Menschen- und Bürgerrechte stattfindet; die Justiz keine Unabhängigkeit hat; es eine Zensur von Presse und Medien gibt; Wahlen, sofern sie abgehalten werden, manipuliert werden und eine Geheimpolizei eingerichtet wird mit besonderen, meist politischen, Überwachungsaufgaben.

Ist das in Venezuela gerade wirklich der Fall? Nein! Indes wird eine unreflektierte Behauptung durch ihr ständiges Wiederholen offensichtlich zu einem Tatbestand, es entstehen, wie es Ulrich Teusch allgemein formuliert, »Narrative, also große journalistische Deutungsmuster oder Erzählungen«. Politisch ebenso inkorrekt ist es, zu sagen, Venezuela sei einer der »letzten Flecken auf der Erde mit einem real existierenden Sozialismus« (»FAZ«, 24.4.2017). Gibt es in einem real existierenden Sozialismus etwa private Unternehmen, private Medien und private Bildungseinrichtungen? Weshalb ein derart leichtfertiger Umgang mit Begriffen und, schlimmer, ihre falsche Kontextualisierung? Unwissenheit? Wohl kaum.

Wenn Boris Herrmann schreibt, dass »es mit der Pressefreiheit nicht weit her« sei (»SZ«, 4.11.2016) - er stützt sich dabei auf die Organisation »Reporter ohne Grenzen« -, widersprechen dem die folgenden Zahlen, die kürzlich die venezolanische Politikwissenschaftlerin Pasqualina Curcio veröffentlichte. Danach »gibt es 108 Tageszeitungen, von denen 97 privat und elf staatlich sind«. Sieht so eine Medienlandschaft ohne Pressefreiheit aus, in der kritische, gemeint sind wahrscheinlich private, Zeitungen »zum Verstummen« gebracht werden, wie es weiter heißt?

Viel ist auch die Rede von »Massenaufmärschen« oder dem »aufgebrachten Volk«, als sei ganz Venezuela gegen Maduro auf den Beinen. Wie groß sind diese Massen tatsächlich? Die »Frankfurter Rundschau« zitiert in diesem Kontext den Politologen Nicmer Evans, der anmerkt, dass »gerade mal zwei Prozent der Bevölkerung auf die Straßen gehen« (12.5.2017).

Fazit: Der Umgang der Presse mit den aktuellen Geschehnissen in Venezuela ist in der Tat »lückenhaft«. Glaubwürdigkeit, Verantwortlichkeit und Ethik sind zweitrangig geworden, die missverstandene oder missbrauchte Freiheit des Wortes ist zu einem gefährlichen Instrument mutiert, der Anspruch auf Wahrheit ist unbedeutend. Hinzu kommen - da muss man kein Verschwörungstheoretiker sein - die Lücken, Auslassungen und Unwahrheiten: Diese sind politisch motiviert. Da bleibt Noam Chomsky immer aktuell.

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