Der Kampf ums »Klassenkampfreferat«
Seit mehr als anderthalb Jahrzehnten existiert an der Uni Münster eine Arbeiterkinderberatung in Eigenregie
Vor mehr als anderthalb Jahrzehnten sprang Andreas Kemper eher aus Zufall eine Schlagzeile ins Auge: »Es studieren immer weniger Arbeiterkinder«. Kemper klemmte sich die Zeitung unter den Arm und machte sich schnurstracks auf zum Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) der Westfälischen Wilhelms Universität in seiner Stadt Münster. »Da muss was passieren«, sagte er dem Vorstand und bekam eine Stelle im Sozialreferat. Der Grundstein für das noch heute existierende Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende (fikuS) war gelegt.
Im Frühjahr 2017 existiert das Referat weiterhin, mittlerweile als anerkanntes »Autonomes Referat« des AStA. Und Studierende aus Arbeiterfamilien sind weiterhin selten. Im Jahr 2013 hatten 60 Prozent der Eltern von Studierenden Abitur, 50 Prozent sogar einen Hochschulabschluss. Dagegen kommen nur neun Prozent aus einer Familie, in der wenigstens ein Elternteil einen Volks- oder Hauptschulabschluss hat.
Erik Brühl und Richard Dietrich sind die frisch gewählten Referenten des fikuS. Beide studieren Erziehungswissenschaften und bringen reichlich persönliche Motivation mit, um Studierende aus Arbeiterfamilien zu vertreten und ihnen Hilfestellungen zu geben. Erik studiert auf dem dritten Bildungsweg, gänzlich ohne Abitur. »Den üblichen Spruch der ProfessorInnen, von wegen ›Ihr habt ja alle Abitur‹ mag ich nicht mehr hören«, sagt er. Unter anderem deswegen beschäftige er sich mit den Themen soziale Durchlässigkeit sowie Bildungsbenachteiligung und Diskriminierung aufgrund der Herkunft.
Auch Richard, der nebenbei als Fremdsprachenlehrer für Deutsch arbeitet, um sein Studium zu finanzieren, ist von seiner Sozialisation geprägt, auch wenn er eigentlich ein Beweis dafür ist, dass das Bildungssystem auch durchlässig sein kann. Er hat fast alle Ebenen des Schulsystems durchlaufen und seine Schulzeit mit dem Abitur abgeschlossen.
»Als ich von der Hauptschule auf das Gymnasium gewechselt bin, drang ich in einen neuen sozialen Habitus ein und dessen Vertreter ließen mich immer wieder spüren, dass ich hier nicht hingehöre«, erzählt Richard. Rückblickend betrachtet konnte er sich nicht frei entfalten. Klassistische, aber auch rassistische Feindseligkeit drängten den Sohn von Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion immer wieder ins Abseits. Erst, als er während seines Studiums mit den damaligen Referenten des fikuS in Berührung kam, änderte sich seine Sichtweise auf seine Erfahrungen. »Ich wurde mir bewusst, dass meine Erfahrungen kein individuelles Phänomen waren, sondern soziale Mechanismen, die unsere Gesellschaft in verschiedene und ungleichberechtigte Milieus teilt.«
Gegen diese Mechanismen will das Referat auf zwei Ebenen vorgehen. Es soll, wenn auch zunächst im Kleinen, einen Beitrag zum Abbau von Selektionsmechanismen und Bildungsbarrieren für Arbeiterkinder an der Hochschule leisten. Über den Horizont der Universität Münster hinaus sehen die Referenten ihre Arbeit als »Fortsetzung des Kampfes um gleichberechtigte soziale Teilhabe und damit letztendlich um die Demokratisierung der Gesellschaft.«
Die Tausenden LehrerInnen, die an den Universitäten und Fachhochschulen ausgebildet werden, hätten später an den Schulen die Möglichkeit, Klassismus zu reproduzieren, oder eben milieusensibel zu handeln. Aber auch die Hilfe auf individueller Ebene ist ihnen wichtig. »Wir dürfen nicht nur hochtheoretische Vortragsreihen organisieren, wie es in linken Zusammenhängen oft passiert«, sagt Richard und fügt hinzu: »Individuelle Hilfs- und Beratungsangebote helfen im Einzelfall mehr als philosophische Analysen.« Dazu wollen sie gemeinsam mit den angesprochenen Studierenden nach Lösungen suchen und individuelle Konzepte entwickeln, wie sie sich etwa finanziell, aber auch mental erholen können, um ihr Studium fortzusetzen. Statistisch brechen Arbeiterkinder ihr Studium weitaus häufiger ab als Studierende aus Akademikerfamilien. Dagegen gelte es vorzugehen.
Dass Erik und Richard ihre wichtige Arbeit heute so leisten können, verdanken sie auch ihren VorgängerInnen, die sich gegen den Widerstand der Universität und auch der hochschulpolitischen Listen durchsetzten. Sowohl Konservative als auch Grüne und sogar linke Studierendenlisten stellten sich zunächst gegen ein Referat, das sich für die Belange von Arbeiterkindern einsetzen sollte. Kemper wollte das Referat von Anfang an als ein »Klassenkampfreferat« gründen. Das passte allerdings wenig in den politischen Alltag, selbst der Linken, die Klassendenken als antiquiert wahrnahmen.
Verschiedene Dinge gaben Kemper und seinem Projekt aber Rückenwind. So etwa die erste PISA-Studie, aber auch die Diskussionen um Studiengebühren. Gegen die Einführung solcher gab es an vielen Universitäten Protestveranstaltungen. Tausende Menschen kamen damals zu einer Kundgebung auf dem Münsteraner Domplatz. »Der ganze Platz war voll«, erinnert sich Kemper.
Auch angesichts dessen erklärte sich der AStA-Vorstand bereit, ein öffentliches Treffen für ein mögliches Referat einberufen zu lassen. »Wenn jemand kommt, dann arbeite weiter«, war die Ansage - »in der Hoffnung, dass niemand kommt«, wie Kemper vermutet. Es kamen dann aber 80 Interessierte zu dem Initialtreffen, und schließlich konnte das fikuS-Referat zunächst als integriertes, also vom Studierendenparlament gewähltes, Referat mit der Arbeit loslegen. Erst nach zehn Jahre guter Arbeit erfolgte die Anerkennung als »Autonomes Referat«, das ReferentInnen auf einer eigenen Vollversammlung wählt und in seiner Arbeit vom Studierendenparlament relativ unabhängig ist. In dieser Zeit baute das Referat eine eigene Bibliothek mit Werken zur Bildungsbenachteiligung auf, führte zahlreiche Veranstaltungen durch und half Studierenden in zahllosen individuellen Gesprächen.
Auch 17 Jahre nach den Anfängen ist die Klassenthematik für Kemper entscheidend. Gerade in Zeiten, in denen auch ArbeiterInnen vermehrt rechte Parteien wählen, müsse eine Linke direkt auf diese zugehen. Kemper sieht das Problem einer Isolierung der ArbeiterInnen, denen wenig Raum gegeben würde, Probleme ernsthaft zu diskutieren und wirkliche Lösungen zu finden.
Was Kemper um die Jahrtausendwende einsam anschob, wird heute auch breiter als Problem wahrgenommen. Seit 2008 ist um die von Katja Urbatsch initiierte Webseite »Arbeiterkind.de« ein rund 75 lokale Anlaufstellen umfassendes Netzwerk mit FördererInnen aus Politik und Wirtschaft entstanden, in denen sich über 5000 Ehrenamtliche darum bemühen, Kinder aus ArbeiterInnenhaushalten an ein Studium heranzuführen und ihnen während eines solchen beratend zur Seite zu stehen.
Als selbstorganisiertes, in Eigenregie arbeitendes Referat einer verfassten Studierendenschaft, das seine Thematik eben auch als politisch auffasst und theoretisch zu begreifen sucht, sei das fikuS in Münster indessen noch immer einzigartig. »Selbstdefinition und Selbstorganisation ist bei den Privilegierten nicht gern gesehen«, sagt Richard.
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