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Raus aus den Kirchenmauern!

Johann Hinrich Claussen und Martin H. Jung bieten Luther im Original und Orientierung

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 5 Min.

Reformator oder Ketzer, Rebell oder Fürstenknecht, Heiliger oder Revolutionär, der Fremde oder der Zeitgenosse, Urvater biedermeierlicher deutscher Familienidylle oder europäischer Visionär? Martin Luther - Legende, Denkmal, Monument, vereinnahmt und geschmäht. Luthers Bild »schwankt in der Geschichte«.

Egon Friedells individualistisch-geistesgeschichtliche Betrachtung prägte lange das bildungsbürgerliche Lutherbild (etwa das Thomas Manns). Die Theologen, mit Bevorzugung des »jungen Luther« (Heinrich Böhmer), zogen sich hinter ihre Schreibtische und Kirchenmauern zurück. Die marxistischen Historiker machten, Karl Marx folgend, für das Scheitern des Bauernkrieges, der sogenannten »Frühbürgerlichen Revolution«, die Theologie bzw. Luther verantwortlich. In diesem Zusammenhang ist es fast unabdingbar, Werner Tübkes Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen von 1989 zu erwähnen, eines der größten und aufregendsten Tafelbilder der Welt. Als Revolutionsikone zehn Jahre zuvor in Auftrag gegeben, gibt es mit seiner überbordenden Fakten- und Personenfülle apokalyptischem und reformatorischem Ereignischarakter breiten Raum.

Trotzdem: Martin Luther war lange ein Verborgener. Mit dem Reformationsjubiläum tritt er vehement in die Öffentlichkeit. Biografen, Romanschreiber und Künstler arbeiten sich an der »Marke Luther« ab. Luther-Spiele, Luther-Comics beleben das Geschäft. Wie soll man sich da noch zurechtfinden?

Wertvolle Orientierung ermöglicht das schmale, aber sehr informative Bändchen »Reformation. Die wichtigsten 95 Fragen« von Johann Hinrich Claussen. Mit seiner immensen Bandbreite, seiner Fülle an Fakten, Daten, historischen und geografischen Bezügen ist es weit mehr als eine Einführung und ganz besonders Ethik-, Religions- und Geschichtslehrern (und deren Schülerinnen und Schülern) zu empfehlen. Auf der Grundlage fundierter Kenntnisse stellt der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland Leben, Werk und Wirkung Luthers im Zusammenhang historischer Ereignisse und Bewegungen dar und zieht die geistesgeschichtlichen Linien bis in die Gegenwart. Heute, 500 Jahre nach dem Beginn der Reformation, fragt Claussen, ob Aufklärung, Erklärung der Menschenrechte, Demokratie oder Kapitalismus deren Folgen waren oder ob Luther doch nur ein religiöser Eiferer gewesen ist. Dass er sein Buch in »95 Fragen« unterteilt, dient nicht nur der Überschaubarkeit, sondern ist selbstverständlich - ein bisschen augenzwinkernd - dem Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 geschuldet. Denn darin sind sich heute die Historiker einig: Dieses Ereignis ist das auslösende Moment der Reformationsbewegung gewesen, auch wenn der Augustinermönch und Doktor der Theologie Martin Luther seine Thesen nicht mit dem Vorschlaghammer an die Wittenberger Schlosskirchentür gehauen hat. Die wäre dabei zersplittert, denn sie war damals noch aus Holz und ist erst im 19. Jahrhundert durch eine Bronzetür ersetzt worden.

Was hat Martin Luther geschrieben? Was war da zu lesen und zu diskutieren? Was versetzte bald die Deutschen bzw. das ganze Kaiserreich in Aufruhr? Außer Theologen und Historikern sind die Schriften im Wortlaut Wenigen bekannt, allenfalls der »Kleine Katechismus«. Man muss nicht die dreibändige, jetzt im Buchhandel erhältliche Ausgabe erwerben, um das Wichtigste zu finden. Das Buch »Luther lesen« mit den zentralen Schriften ermöglicht Einblicke. Martin H. Jung (Professor in Osnabrück) hat die Texte in eine moderne, verständliche Sprache übertragen und mit kurzen Einführungen versehen. Hier seien hervorgehoben: die gesamten 95 (ursprünglich lateinisch abgefassten) Thesen gegen den Ablasshandel, der Aufruf »An den christlichen Adel deutscher Nation«, kurz »Adelsschrift« genannt, die sich wie ein Lauffeuer verbreitete, und die noch heute meistgelesene »Freiheitsschrift«, beide von 1520. Durch die letztere mit ihrer dialektischen Formulierung von der »Freiheit« und »Dienstbarkeit« des Christenmenschen geriet Luther erstmals in Konflikt mit Erasmus von Rotterdam.

Das Buch von Jung enthält weiterhin Luthers Aufruf »Wider die räuberischen und mörderischen Horden der Bauern« von 1525, die in der Aufforderung an die Fürsten und Herren mündete, »zu stechen, zu schlagen, zu töten«, zudem die beiden konträren »Judenschriften« von 1523 und 1543. Außer diesen beschämenden Aufrufen ist aber auch erstaunlich Aktuelles zu entdecken: 1524 schrieb Luther über »Kaufhandlung und Wucher«, womit er seiner Kritik an Handel und Großkapital (Fugger) deutliche Worte verlieh: »Von den Handelsgesellschaften könnte ich wohl viel sagen, aber es ist alles so grund- und bodenlos voller Geiz und Unrecht, dass nichts darin zu finden ist, was mit gutem Gewissen behandelt werden könnte ... Denn wer ist so einfältig, dass er nicht sieht, dass die Gesellschaften nichts anderes sind als bloße Monopole? ... Wie könnte das je gütlich und recht zugehen, dass ein Mann in kurzer Zeit so reich wird, dass er Könige und Kaiser auskaufen könnte?« Dem ist kaum etwas hinzuzufügen. In unserem Zeitalter der schnellen Informationen aus zweiter Hand kann das Studieren von Quellen wie den fast 500 Jahre alten Luther-Texten nützlich und überraschend sein.

Seit dem Entstehen der Ökumenischen Bewegung und dem Zweiten Vatikanischen Konzil haben die einst sich bekämpfenden konfessionellen Kontrahenten zu einer Gesprächskultur der Achtung und Würdigung des anderen gefunden, wie die kleine Luther-Schrift von Walter Kardinal Kasper deutlich macht. Er wagt die These, dass »die Fremdheit der Welt, in der Luther lebte«, und seine Botschaft von »ökumenischer Aktualität« sind. Luthers »Fremdheit« stellt er den wesentlich provokanteren Freiheitsbegriff des Erasmus von Rotterdam entgegen, was nur auf den ersten Blick erstaunt; der Humanist hatte sich in Kleinliches nicht eingemischt und war der Alten Kirche treu geblieben. Theologen, Humanisten, Naturwissenschaftler setzten danach den Streit um die wahre Religion bzw. um die Wahrheit fort. Unter ihnen mit am prägnantesten Gotthold Ephraim Lessing, dessen Geist man sich auf dem Kirchentag wünscht.

Johann Hinrich Claussen: Reformation. Die 95 wichtigsten Fragen. Verlag C. H. Beck. 176 S., brosch., 10,95 €. Martin H. Jung (Hg.): Luther lesen. Die zentralen Texte. Hrsg. vom Amt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. 215 S., geb., 13 €. Walter Kardinal Kasper: Martin Luther. Eine ökumenische Perspektive. Patmos- Verlag. 96 S., geb., 8 €.

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