Nur die Toten lügen nicht
Frank Castorfs letzte Inszenierung an der Berliner Volksbühne: »Ein schwaches Herz« nach Fjodor Dostojewski
Arbeiter schrubben, auf dem Dach der Volksbühne, an den dort oben prangenden drei Buchstaben: OST. Es ist die Szene eines kurzen Stummfilms. Schwarz-weiß. Geraffte Bewegungen. Wie »Kuhle Wampe«. Castorfs fettes Gehäuse, wie eine coole Wampe steht es im Zentrum Berlins. Davor paradiert Wassja Schumkoff, irre geworden an seinem stockenden Leben: Stechschritt am Räuberrad auf dem Vorplatz.
Mit diesem Filmchen enden die nahezu vier Stunden der letzten Berliner Volksbühnen-Premiere von Frank Castorf: »Ein schwaches Herz« nach der Erzählung von Fjodor Dostojewski (Bühne und Kostüme: Nina von Mechow). Castorf porträtiert im Leiden Schumkoffs - der für seinen Arbeitgeber Abschriften anfertigt, aber mit Terminen und Disziplin nicht zurande kommt - die Unrast und das Überfordertsein einer zeitgeschundenen Kreatur. Der Osten, also auch die russische Literatur, wieder einmal als Castorfs Heil- und Geilstätte, wo nicht im Entferntesten etwas an Rettung denken lässt - aber doch alles so lebendig bleibt, wie eben nur ein sehnender, süchtiger, säuischer, wüster und wirr wandernder Körper lebendig sein kann. Lebendig sein heißt: die weltbedingte Unfähigkeit, zu leben, wirklich bis zum Ende ausspielen. Panisch, polternd, pubertär, poetisch. Und immer diese herrlich komische Mühe, den Ankünften nicht zu glauben, denn wahr sind nur die Abschiede. Der hier am Rosa-Luxemburg-Platz sowieso.
Noch einmal die Überdosis, denn nur die Überdosis schafft den Rausch. Vorm Rausch die Qual. Diese elenden Sitzsäcke, die zunächst Bequemlichkeit lügen und ein Versunkenheitsversprechen heucheln - ehe sie, merklich mehr und mehr, zur Körperfolter übergehen. Dieser schwarze betonierte Bert-Neumann-Raum mit den Lamettavorhängen. Die Live-Kamera. Die dramaturgische Unübersichtlichkeit. Die schrillen, lauten Musikdröhnungen, wie Weckdienste der Regie an neuralgischen Punkten der allgemeinen Wahrnehmungskraft. Zu Beginn war vom fatalen Ehrgeiz eines Schriftstellers die Rede, »gleich mit der Handlung zu beginnen«. Lachen allseits, was sonst. Zynismus salbt.
Dann stürzen die Monologe ineinander. Ein Bett kracht und wird zum Grab. Ein hässlicher gelber Schal wird beklagt, der zu allem Übel auch noch im Nacken verknotet ist. Ein Brauthäubchen spielt plötzlich eine Hauptrolle. Liebe zu dritt. Liebe überhaupt. Eine Maschine für Zeitreisen blinkt - eine Illustration zu Filmszenen aus »Iwan Wassiljewitsch wechselt den Beruf«, einer berühmten sowjetischen Filmkomödie aus dem Jahre 1973 nach dem gleichnamigen Bühnenstück von Michail Bulgakow: eine Irrfahrt in die Zeit Iwans des Schrecklichen. Der Wunsch nach Unsterblichkeit und Sphärenüberschreitung als gefährliches Spiel mit dem übermütigen Bewusstsein.
Das Ensemble tobt durch die bühnenlose schmale Schneise zwischen den Sitzpolstern; da stehen hintereinander Türenschränke, Tische, Betten, ein Sofa, ein Klavier für den Musiker Sir Henry. So, sieh hin, schnapp dir Worte auf, und mach dich damit auf deine eigene Reise: Lubjanka, Mitgefühl, Armut, Glück. Das liege, so heißt es, einzig in der Wirklichkeit, nicht in Büchern und Illusionen. Russische Schauspielernamen werden abgeschmeckt: Smoktunowski, Nikulin. Getanzt wird auf einem Tisch. Ach, die Toten - schon liegen alle Spieler auf dem Boden - sind die wahren guten Menschen: Sie lügen nicht und müssen sich nicht schämen. Damit schiebt sich eine weitere Dostojewski-Novelle in die Aufführung: »Bobok«. Das Gespräch mit den beneidenswerten Gestorbenen als bittere Bestätigung dessen, was Existieren heißt: niemals wirklich getröstet zu sein.
Natürlich schreitet, was weiblich ist, hochhackig daher. Natürlich wird sich ein bisschen ausgezogen. Natürlich zeigt man Schweiß - und rasenden Fleiß. Einmal, es ist schon spät am Abend, sagt der Abschriften-Verfertiger Wassja Schumkoff, er habe hier noch einige Texte - es klingt wie eine Drohung der Regie. Auch geht die Rede von Texten, die er erst gestern kennengelernt habe - wohl ein Einblick ins Probenmartyrium. Der Freund des Schreibers Schumkoff erzählt von der Fügung, einander kennengelernt zu haben: auf der Schauspieler-Sonderschule, wo man gemeinsam sitzen geblieben sei.
Noch einmal also stürzt sich Castorf, stößt er uns alle in dieses typische Regie-Mahlwerk, das mit Freuden die Elemente mischt: das Hoffen und das Verzweifeln, den Egoismus und den Gemeinsinn, die Liebe und den Hass, den schönen Traum und das böse Erwachen, das Geld und die Geltung. Vor allem: die Philosophie und den Klamauk, den Seelengrund und die Luftblase. Den Gedanken und das Geistlose. Bis zum Exzess, bis zur Behäbigkeit. Darin schwimmt das brodelnde Fühlen, Sprechen, Brüllen, Schweigen: die große Rührschüssel. Darin schwimmt und glänzt also das schöne wehe Zirpen der Kathrin Angerer, der ehrliche Brüllklumpen des Frank Büttner, die lang gezogenen Melancholien der Jeanne Balibar, der sonore, witzige Klarton-Brocken von Mex Schlüpfer, der kantige slawische Schmelz von Margarita Breitkreiz. Bei allen wieder: dieser Scharf-Sinn des Ungestümen, dieser Barock aus flammendem Labern und turnendem Getölpel. Bis sich das Spiel plötzlich selber unter die Haut geht. Das Spiel über die Höllen - die sich auftun, wo wir den Himmel versuchen. Sieh nur, wie die Menschen flächiger werden, wenn sie zur blöden Vernunft kommen. Schau nur, wie Eigensinn entsteht: indem man sich aus jedem Vergleich zieht.
Das so wundersam kindliche Massiv Daniel Zillmann (er übernahm erst kurz vor der Premiere) jagt grandios durch den Parcours, die spurtende Souffleuse Elisabeth Zumpe stets vor und neben sich - eine Paarung, ganz Castorf: Unsicherheit, mit Kraft in die Welt gewuchtet; Unfertigkeit, mit Behauptungsschärfe herausgeplatzt; Hilflosigkeit, in betörenden Charme gekleidet. Aus allen Poren die Wahrheit: Leute, ist doch alles nur Theater - wie all das, was ihr da draußen arbeitstaglang mit euren eingefrosteten Affekten treibt und was ihr mit so überaus lächerlichem Bedeutungsguss überzieht.
Wie gesagt: Die Überdosis macht’s. Noch einmal die ganze Wirrnis von nur vage denkbaren Zusammenhängen, das Strickmuster der Improvisationen, das Rücksichtslose der szenischen Abfolgen, der Rollentausch, der Geschlechtertausch, kurz: dieses heimtückische, geradezu hämisch ausladende Spiel Castorfs mit dem eigenen Mythos. Mitunter darf man wohl mutmaßen, eine der Kameras nehme unsere Gesichter auf und übertrage die Bilder in die Kantine, wo der Meister sitzt und Schenkel klopft: wie wir da oben Fanklub spielen, aber mit immer tiefer sinkenden Augenlidern; wie wir tief tun, wo da doch nur hochgestapelt wird mit jenem gut geölten Kult des Andersseins, mit jenem in die Jahre gekommenen Eros des Außenseiters. Aber freilich ist das ungerecht. Castorf geht noch einmal - unbekümmert unperfekt, angreifbar lässig - auf fordernde Grundwanderung durch seine Geisteswelt. Er lebt souverän im langen Wandel seiner Werke, sein Kurs umfasst alle Geländearten zwischen Höhe und banaltiefem Tal. Sehr beziehungsreich hatte Kathrin Angerer am Anfang gesagt: »Ich komme mir vor wie in Senftenberg.« Dort hatte Castorf 1976 als Dramaturg begonnen.
Ein beglückendes Erlebnis: der Wassja Schumkoff des Wiener Schauspielers Georg Friedrich. Ein kahlköpfiger Weltflüchtling. Ein gutherziger Nosferatu. Eine kleine Mundbewegung, und eine Tragödie findet statt. Ein leichtes Schniefen, und eine Komödie schlägt Salto. Wie er in die Luft schreibt, wie er sich im Bett krümmt, wie er Schumkoffs leichte Verwachsenheit durch den Raum schleppt: großartig. Am Schluss sehen wir diesen umwahnten Schumkoff im Stummfilm: Abfahrt ins Irrenhaus, er blickt durchs vergitterte Rückfenster, in dem die Volksbühne kleiner und kleiner wird.
Auszug der Narren also. Sehr langer Beifall für einen Frank Castorf, der sich nur sehr kurz zeigte. Der Abend machte ein gemischtgefühliges Gesicht: Alles geht unter, ja, aber wie wir es gespielt haben, das bleibt doch eine Weile in der Luft.
Nächste Vorstellungen: 5., 10., 30. Juni
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