Im Spagat

Vietnamesen gelten als gut integriert, fleißig und still. Wie aber lebt sich ein Leben im Klischee?

An den Tag, als er mit geliehenen Turnschuhen in sein neues Leben trat, kann sich Cuong Le Xuan genau erinnern. Der Winter in Europa stand kurz bevor, als er am 27. November 1987 aus einem Flugzeug in Berlin-Schönefeld stieg und nichts weiter dabei hatte als zwei Notizbücher und etwas warme Kleidung, die ihm ein Kollege noch hastig mit auf den Weg gab. Als er die Gangway hinunterlief, dachte er nur eins: »Heute bin ich König«, auch wenn das Wetter zu seiner Begrüßung grauenhaft war. Hinter sich ließ er ein Land, das vom Krieg zerstört und innerlich zerrissen war. Obwohl offiziell vereint, nach wie vor gespalten in Nord- und Süd. Sieger und Besiegte. »Ich verließ Vietnam, das in großen Schwierigkeiten war«, sagt er und traut sich, weil sich das wie Verrat anhört, kaum zu sagen, dass er in Ostdeutschland auf eine glücklichere Zukunft hoffte.

Cuong sitzt auf einer wuchtigen schwarzen Ledercouch in seiner Wohnung in Berlin-Lichtenberg und rührt in einer Tasse Tee. Das Möbelstück ist so riesig, dass der zierliche Mann darin zu versinken droht. Die Füße baumeln kurz über dem Fußboden. Cuong kam als Vertragsarbeiter aus der vietnamesischen Küstenprovinz Thanh Hóa, 170 Kilometer südwestlich von Hanoi, nach Ostberlin und hat seither nirgendwo anders als in Lichtenberg gelebt. Cuong war einer von rund 59 000 vietnamesischen VertagsarbeiterInnen, die in den 1980er Jahren in die DDR kamen.

Eines Tages hatte man in seinem Betrieb, in dem er als Näher arbeitete, seinen Namen auf eine Tafel geschrieben, sein Ticket in die Welt. Cuong ging nur bis zur siebten Klasse zur Schule, hat keinen Beruf gelernt. Auf der Arbeit war er einer der Fleißigsten, unauffällig, ordentlich, immer pünktlich. Genau das, was sie suchten. Zwei, drei Monate wartete die Betriebsleitung ab, ob er auch wirklich zuverlässig war, dann wurde er zum Gesundheitscheck ins Krankenhaus geschickt und erhielt einen Arbeitsvertrag bei einem Industriekombinat in Karl-Marx-Stadt, das ihn nach Lichtenberg schickte. »Ich war so froh, eine Chance zu bekommen. Egal wo. Das war wie ein Lottogewinn.«

Cuong ist das jüngste von drei Kindern. Sein Vater fiel 1966 im Vietnamkrieg, in dem Jahr, in dem er geboren wurde. Für Cuong und seine Geschwister war klar, dass sie die Schule abbrechen oder nicht lange besuchen würden, um so schnell wie möglich Geld zu verdienen. »Ich hätte gerne einen vernünftigen Beruf gelernt, dann müsste ich heute nicht so hart schuften, um durchzukommen«, sagt er. Mehrmals in der Woche steht Cuong um 4.30 Uhr auf, fährt zum Großmarkt, um Obst und Gemüse für seinen Lebensmittelladen in der Kaskelstraße/Ecke Spittastraße zu kaufen. Um 8.30 Uhr öffnet er das Geschäft, das er seit fast 20 Jahren mit seiner Frau führt. Hier stehen sie bis 22 Uhr hinter der Kasse, verkaufen Eis, Bier, Süßigkeiten und Tomaten an Familien, von denen die meisten nicht mal halb so lange im Kiez leben wie er. Anschließend räumen sie gemeinsam auf und bereiten den Laden für den nächsten Tag vor. Mehr als drei Euro pro Stunde verdienen die beiden jeweils nach Abzug aller Kosten nicht, das hat er mal ausgerechnet. Um halb eins liegt Cuong im Bett. Dann stehen die grauen Filzschlappen der Familie, ordentlich nach Größe sortiert, im Flur und warten auf den nächsten Morgen.

Keinen Tag hat Cuong von Sozialleistungen gelebt, erzählt er stolz. Ein Satz, der mehr über Deutschland verrät als über ihn. Reportagen über Vietnamesen tragen Titel wie »Die Mustereinwanderer« und »Unsichtbare Lieblinge«. Fleißig, still und demütig, so sollen sie doch auch sein, die Menschen, die zu uns kommen. Wohl deshalb interessiert sich auch niemand öffentlich für die Probleme und Sorgen der Vietnamesen. In den Talkshows sitzen sie nicht, in der Politik sind sie kaum vertreten. Scheinbar geräuschlos leben sie in einem Klischee, zusammengeschustert aus Imbissbuden, Blumenläden und American-Nails-Studios.

»Sie sind nicht unsichtbar«, sagt Tamara Hentschel, die seit über 20 Jahren den vietnamesischen Integrationsverein Reistrommel in Berlin-Marzahn leitet und immer zuerst gefragt wird, wenn es um eine kritische Meinung zu Deutschlands angeblich »pflegeleichtesten« Einwanderern geht. Hentschel hat als Wohnheimbetreuerin in Berlin-Marzahn Anfang der 1990er Jahre zum ersten Mal mit Vietnamesen zu tun gehabt, hat die schlimmsten und die besseren Phasen vietnamesischer Wirklichkeit erlebt und in der Zusammenarbeit mit ihnen ihr Lebensthema gefunden. »Dort, wo die Vietnamesen organisiert sind, sind sie sehr präsent«, sagt Hentschel. Für nahezu alles gibt es Vereine, Firmen und Dienstleister, die ein Leben ohne Missverständnisse möglich machen. Es gibt Ärzte, Anwälte, Fahrschulen, Druckereien und Diskos speziell für Vietnamesen. »Nach der Wende entstand ein großes Dienstleistungsnetzwerk innerhalb der Gemeinschaft, das Integration gar nicht nötig machte«, sagt Hentschel.

Die Voraussetzungen dafür sind historisch gewachsen. Nach 1990 lebten Vietnamesen, und vor allem die ehemaligen VertragsarbeiterInnen, jahrelang in Unsicherheit, hängengelassen sowohl vom vereinigten Deutschland als auch von der Volksrepublik Vietnam, die die Arbeiter vor Ablauf ihrer Beschäftigungsfrist nicht zurücknehmen wollte. Bis zum Ende ihrer Arbeitsverträge galt in Deutschland zwar eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, aber die meisten davon waren auf fünf Jahre befristet. Viele Betriebe im Osten überlebten diese Zeit nicht. Die Bundesrepublik bot damals jedem, der »freiwillig« zurückging, eine Entschädigung von 3000 Mark. Für kaum einen, der nicht sowieso ausgewiesen wurde, war das attraktiv. 21 000 der knapp 60 000 ehemaligen VertragsarbeiterInnen blieben in Ostdeutschland. Anders erging es den Kontingentflüchtlingen aus Südvietnam, den sogenannten Boatpeople, die in den 1970ern in die Bundesrepublik kamen, deren Aufenthaltsstatus gesichert war. »In Vietnam erwartete mich, bis auf meine Familie, nur Perspektivlosigkeit«, sagt Cuong, der Anfang der 90er Mitte zwanzig war und bereits einen Sohn hatte, der in Lichtenberg zur Welt kam. »Ich war jung und dachte, ich könnte in Deutschland noch ein paar Jahre mein Glück versuchen.«

Eine wirkliche Perspektive ergab sich für die Vietnamesen erst ab 1997 mit einer neuen Bleiberechtsregelung, die es möglich machte, nach achtjährigem Aufenthalt eine Niederlassungs- und Arbeitserlaubnis zu erhalten. »Durch die Jahre des ungesicherten Aufenthaltes hatten sich viele VietnamesInnen in die eigene Gemeinschaft zurückgezogen, kaum einer hatte seine deutschen Sprachkenntnisse verbessert, da weder Zeit noch Geld dafür zur Verfügung standen«, heißt es in einer kürzlich erschienenen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die sich sehr differenzierte mit dem Leben der Vietnamesen vor und nach 1989 in Ost und West auseinandersetzt. Heute leben etwa 90 000 Vietnamesen in Deutschland, davon 20 000 in Berlin.

Fragt man Cuong nach dieser Zeit vor 20 Jahren, in der er sich mit Hilfsjobs auf dem Bau über Wasser hielt, wird er sehr unversöhnlich mit seinen Landsleuten. »Nach der Wende gab es keine Arbeit mehr, einige haben eben angefangen, Zigaretten und CDs zu verkaufen.Wir hatten nur Kontakt untereinander. Von außen betrachtet, muss das sehr seltsam ausgesehen haben.« Die rassistische Gewalt in Rostock-Lichtenhagen vor 25 Jahren, die Anfeindungen und alltäglichen Beschimpfungen waren seiner Meinung nach die »logische« Folge. Dann schiebt er noch zwei erstaunliche Sätze hinterher: »Was hatten die Vietnamesen auch nach Einbruch der Dunkelheit noch draußen auf der Straße zu suchen? Wenn man zu Hause blieb, dann passierte auch nichts.«

Die Stimmung, die Cuong beschreibt, kennt Nhan Thanh Nguyen nur aus Erzählungen. Mitte der 90er Jahre war er 13. In einem Flüchtlingslager in Uelzen geboren, wuchs er in Neukölln zwischen Arabern, Türken und Russen auf. Rassismus habe er da nie erlebt. Seine Eltern kamen 1981 als Boatpeople nach Westdeutschland, da war seine Mutter mit ihm hochschwanger.

Nhan sitzt an einem Maitag vor der Baustelle seines neuen Restaurants am Ku’damm und raucht eine Mentholzigarette. Ende Juni soll es eröffnen. Sein anderes Restaurant in Steglitz läuft gut. Nhan trägt enge Jeans, Lederjacke und eine schlumpfige Wollmütze. Das Restaurant, das er mit Freunden betreiben will, soll heißen wie seine vierjährigen Zwillingstöchter »Han&Nhi«, ein stylischer Laden mit Fusion-Küche aus vietnamesisch, thailändisch und mediterran. Eigentlich wollte Nhan Architekt werden, hat studiert und wieder abgebrochen, weil sein ältester Sohn Bao Elias zur Welt kam. Der in der Schule Elias heißt und bei seinen Verwandten Bao. Ein Wanderer zwischen den Welten. Lange hat Nhan bereut, das Studium aufgegeben zu haben. »Aber ich musste Geld für die Familie verdienen. Ich wollte nicht, dass wir jeden Pfennig umdrehen müssen.« Nhan gehört zur Gruppe der jungen Vietnamesen, die gehörigen Respekt vor der Lebensleistung ihrer Eltern hat, aber eigene Wege gehen will. Vietnam kennt er nur aus dem Urlaub. Wenn man ihn fragt, was an ihm vietnamesisch ist, dann überlegt er lange. Der Sinn für Familie vielleicht, das Gesellige, die Zielstrebigkeit.

Den großen Bruch, der die vietnamesische Gemeinschaft auch in Berlin Jahrzehnte lang in Nord und Süd teilte, spürt Nhan nicht mehr. Seine Frau ist Nordvietnamesin, die ideologischen Grabenkämpfe zwischen Sozialisten und Regimegegnern kennen die beiden höchstens von den Eltern. Nhan hat, wie viele junge Vietnamesen, im Vergleich zu seinen Eltern, die als Maschinenführer und Koch arbeiten, einen rasanten gesellschaftlichen Aufstieg hingelegt. Fast 60 Prozent der Kinder mit vietnamesischen Wurzeln gehen heute aufs Gymnasium, bei deutschen Kindern ohne Einwandererbiografie der Eltern liegt der Anteil knapp über 40 Prozent. »Die Frage ist immer, zu welchem Preis sich dieser Leistungsgedanke durchgesetzt hat«, sagt Hentschel. Sie erzählt von Jugendlichen, die ärztliche Atteste fälschen, weil sie für Prüfungen nicht lernen konnten und abends im Geschäft der Eltern aushelfen. Auch von einem Selbstmord erzählt sie. Ein junges Mädchen aus Marzahn nahm sich vor zehn Jahren das Leben, weil sie die rassistischen Anfeindungen in ihrer Klasse, den Erwartungsdruck der Eltern und deren strenge Erziehung, die kaum Kontakt zu Mitschülern zuließ, nicht aushielt.

»Man muss allerdings zwischen den Biografien der Jugendlichen unterscheiden«, sagt Quynh Thi Nguyen, die als Integrationscoach bei Reistrommel arbeitet und während ihres Studiums eine Dokumentation über junge VietnamesInnen in Berlin produzierte. Die problematischste Gruppe seien ausgerechnet die, die in Deutschland geboren sind. »Viele von ihnen kommen mit dem Anspruch, der an sie gestellt wird, nicht zurecht«, sagt Quynh. Vater und Mutter seien durch die harte Arbeit kaum präsent, erwarten aber, weil unter Vietnamesen der Erfolg der Kinder auch immer der eigene ist, Spitzenleistungen. Dazu kommen Identitätskrisen und Verständigungsschwierigkeiten, weil die Eltern nur Dienstleistungsdeutsch, die Kinder wiederum nicht gut genug vietnamesisch sprechen. Am besten kämen die zurecht, die mit der Familienzusammenführung Anfang der 90er Jahre nach Deutschland nachgeholt wurden, sagt Quynh. Sie haben den Spagat zwischen zwei Welten geschafft, der viele in Deutschland Geborene zerreißt. »Die meisten verstehen beide Sprachen, sind perfekt integriert, eigentlich assimiliert, studieren und arbeiten bei Unternehmensberatungen, als Manager, Informatiker oder Ärzte.« Fragt man sie, warum kaum einer den Weg in die Politik oder in die Medien wagt, sagt sie: »Dafür sind die Vietnamesen viel zu brav.« Die meisten seien es nicht gewohnt, sich durchzusetzen. Aufgewachsen in einer Kultur, in der es nicht üblich ist, Wünsche offen zu äußern, seine Meinung gegen die der Gruppe zu stellen.

Cuong, der sich auch nach 30 Jahre in Deutschland noch als Gast fühlt, und dafür sein Bildungsdefizit verantwortlich macht, sitzt manchmal abends allein in der Küche. Er denkt dann darüber nach, warum alles so ist, wie es ist. Die ganze Plackerei, während andere im Sommer mit ihren Rollkoffern an seinem Geschäft vorbeirattern und ihm später von ihren Urlauben erzählen, während er, bis auf Besuche bei seiner Familie in Vietnam, noch nie aus Deutschland rausgekommen ist. Nach Griechenland oder Spanien würde er gerne fliegen. »Die Sonne ist da so schön.« Sie erinnert ihn an seine Kindheit in Thanh Hóa.

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