Das Gedächtnis der Gene

Wissenschaftler vermuten, dass der Einfluss der Umwelt auf unser Erbgut größer ist als bisher angenommen. Brauchen wir deshalb eine neue Theorie der Vererbung? Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 7 Min.

Je nach Erhebung gelten in Deutschland zwischen 17 und 23 Prozent der Erwachsenen als fettleibig. Wer dieses unschöne Wort vermeiden möchte, kann auch sagen: Sie leiden an Adipositas. Anders ausgedrückt: Ihr Body-Mass-Index (Körpergewicht in Kilogramm geteilt durch das Quadrat der Körpergröße in Metern) beträgt 30 und mehr. Wie aus epidemiologischen Studien hervorgeht, sind adipöse Menschen anfälliger für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck, Arteriosklerose. Und sie leben im Schnitt zehn Jahre weniger als normalgewichtige Menschen.

Ursachen für Adipositas gibt es viele: genetische Veranlagung, Stoffwechselstörungen, falsche Ernährung, Bewegungsmangel. Eine wichtige Rolle spielt auch die sogenannte perinatale Prägung, die vor und kurz nach der Geburt eines Kindes stattfindet. Hat eine Mutter während der Schwangerschaft ein deutliches Übergewicht, gefährdet sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihr Ungeborenes. Denn Babys von übergewichtigen Müttern sind bei der Geburt oft besonders schwer. Das führe zu komplizierteren Entbindungen, sagt Joachim Dudenhausen, ehemaliger Direktor der Klinik für Geburtsmedizin der Charité. »Es erhöht aber auch das Risiko der Kinder, später an einem Diabetes vom Typ 2 zu erkranken.«

Das alles ist seit Längerem bekannt. Relativ neu hingegen ist die Erkenntnis oder genauer gesagt die Annahme, dass eine ungesunde Ernährung Spuren auch in den Keimzellen beider Geschlechter hinterlässt. Kontrollierte Studien hierzu gibt es bisher aber nur bei Tieren. Bereits 2010 hatten australische und französische Forscher festgestellt, dass männliche Ratten, die eine besonders fettreiche Kost erhielten, im Vergleich zu normal ernährten Ratten viel häufiger Töchter mit einem diabetesähnlichen Stoffwechsel zeugten. Als die Jungtiere älter wurden, wiesen sie nicht nur einen erhöhten Blutzuckerspiegel auf. In den Inselzellen ihrer Bauchspeicheldrüse registrierten die Forscher auch eine veränderte Aktivität von über 600 Genen.

In einem weiteren Experiment wurde bei der Ernährung männlicher Mäuse fast ganz auf Proteine verzichtet. Diesmal kam es bei den Nachkommen zu einer Veränderung der Genaktivität in den Leberzellen, und zwar bei männlichen wie weiblichen Jungtieren. In beiden Experimenten waren die jeweiligen Mütter der Tiere gesund und erhielten eine ausgewogene Kost. Das legt die Vermutung nahe, dass die Väter die Information über ihr ungesundes Essverhalten über ihr Sperma an die nächste Generation weitergegeben hatten.

Im Jahr 2016 gelang einem Forscherteam um Johannes Beckers vom Institut für experimentelle Genetik am Helmholtz Zentrum München erstmals der Nachweis, dass nachteilige Folgen der Ernährung auch über die mütterliche Linie gleichsam vererbt werden können. Ihre Studie führten die Wissenschaftler an fettleibigen Mäusen durch, die bereits einen Typ-2-Diabetes entwickelt hatten. Die Nachkommen dieser Mäuse wurden durch künstliche Befruchtung gezeugt und von gesunden, normalgewichtigen Leihmüttern ausgetragen. Das Einzige, was die Jungtiere von ihren Eltern also erhielten, waren deren Keimzellen. Die Forscher konnten so verhindern, dass der Embryo vom Stoffwechsel einer fettleibigen Mutter oder deren Verhalten kurz nach der Schwangerschaft beeinflusst wurde. Dennoch waren die fremd ausgetragenen Jungtiere im Schnitt dicker als Mäusebabys aus einer Vergleichsgruppe (»Nature Genetics«, Bd. 48, Nr. 5, S. 497).

Ein durch Ernährung erworbener Diabetes könne offenbar über Eizellen und Spermien übertragen werden, sagt Beckers. Auch wenn bisher unklar ist, wie das im Detail funktioniert, sehen manche Forscher in den neuen Erkenntnissen einen möglichen Ansatz zur Erklärung des rasanten Anstiegs der Zuckerkrankheit bei Menschen seit den 1960er Jahren. Denn »harte« genetische Faktoren scheiden als Ursache für derart kurzfristige Veränderungen aus. So schnell kann sich die DNA unmöglich wandeln. Vermutlich fußte die Weitergabe von Merkmalen, wie sie in den geschilderten Experimenten auftrat, auf einem epigenetischen Prozess (von griech. »epigenesis« = nachträgliche Entstehung). Hierbei kommt es nicht zu einer Veränderung des genetischen Codes bzw. der Basensequenz des Erbmoleküls DNA. Modifiziert wird lediglich die Aktivität der Gene, unter anderem durch den Prozess der Methylierung. Dabei werden an bestimmten Stellen der in den Körperzellen vorhandenen DNA kleine chemische Marker angehängt, sogenannte Methylgruppen (-CH3), welche die Genaktivität und mithin die Produktion von Proteinen in der Zelle regeln. In den verschiedenen Methylierungsmustern der DNA schlagen sich die individuellen Umwelterfahrungen eines Organismus nieder, wie etwa eine fettreiche Ernährung oder auch verstärkter Stress.

In seinem jetzt erschienenen Buch »Gesundheit ist kein Zufall« vertritt der Biologe und Wissenschaftsautor Peter Spork energisch die These, dass epigenetische Mechanismen auch für das Vererbungsgeschehen beim Menschen von grundlegender Bedeutung seien. Das heißt, der Lebenswandel, den wir heute führen, was wir essen, trinken oder sonst noch tun, kann Auswirkungen auf die Gesundheit unserer Kinder, Enkel und vielleicht sogar Urenkel haben. Denn epigenetische Veränderungen in verschiedenen Körperzellen unseres Organismus, die zum Beispiel als Folge einer ungesunden Ernährung auftreten, werden laut Spork von einer Generation an die nächste vererbt. Das klingt verdächtig nach Lamarckismus, der bekanntermaßen mit den Erkenntnissen der modernen Biologie nicht vereinbar ist. Denn eine Vererbung erworbener Eigenschaften kann nur dann stattfinden, wenn Informationen über phänotypische Veränderungen letztlich in die Keimzellen gelangen.

Spork zweifelt nicht, dass dies geschieht. »Wir vererben definitiv mehr als unsere Gene.« Gleichwohl muss er einräumen, dass die wenigen epidemiologischen Hinweise, die auf eine längerfristige epigenetische Vererbung beim Menschen hindeuten, »noch fern jeder Beweiskraft sind«. Und solange das so ist, sollte man, was die Möglichkeiten der Epigenetik angeht, etwas mehr Zurückhaltung üben. Natürlich wird niemand ernsthaft bestreiten, dass Männer und Frauen durch eine ungesunde Lebensweise Einfluss auf die Gesundheit ihres Nachwuchses nehmen. Allerdings braucht man zur Erklärung dessen keine neue Vererbungstheorie. Selbst Spork spricht hier nur im Konjunktiv: »Es wäre eine riesige biologische Sensation«, sollte sich herausstellen, »dass sich Gene nicht nur zufällig, sondern auch gezielt auf Umwelteinflüsse wandeln«. Dies wiederum würde funktionieren, wenn epigenetische Prozesse direkt oder indirekt auf die Basensequenz der DNA einwirkten.

Bislang jedoch sind das alles Spekulationen, auf die manche Biologen genervt reagieren. Wie die britische Epigenetik-Expertin Leonie Ringrose, die am Berliner Integrative Research Institute of Life Sciences (IRI Life Sciences) forscht. Auf die Frage, ob wir unsere Gene durch einen gesunden Lebenswandel gezielt steuern und epigenetische Veränderungen vererben können, antwortete sie in einem Interview: »Nein. Das ist absoluter Quatsch!« Zur Erklärung führte sie an: »Jeder Mensch hat zwischen 200 und 300 verschiedene Zelltypen. Viele diese Zellen teilen sich regelmäßig.« Zum Beispiel Leberzellen, die Alkohol abbauen. Während dieses Prozesses ist in der Leber ein bestimmtes Gen aktiv, dessen Wirkung durch spezielle epigenetische Marker womöglich stabilisiert wird. Wenn sich die Zelle nun teilt, geht diese epigenetische Information auf die Tochterzellen über. »Das bedeutet, dass das Gen, das wichtig für den Alkoholabbau ist, auch noch aktiv sein kann, lange nachdem jemand Alkohol getrunken hat.« Solche epigenetischen Veränderungen sind durchaus nützlich, denn es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der ein Glas Bier oder Wein getrunken hat, dies demnächst wieder tun wird. Sein Körper ist dann darauf vorbereitet, den konsumierten Alkohol rascher abzubauen.

Unmittelbar vererbbar sind solche Erfahrungen allerdings nicht. Denn ein Kind entsteht aus einer einzigen verschmolzenen Zelle. Folglich verfügen alle daraus hervorgehenden Tochterzellen über die gleiche epigenetische Information, wozu im betrachteten Fall auch die der alkoholabbauenden Leberzelle gehören müsste. Eine solche Konstellation wäre für den Organismus des Kindes kaum förderlich, meint Ringrose, sondern brächte vermutlich viele Probleme mit sich.

Deshalb werden bei der Vereinigung von Ei- und Samenzelle die epigenetischen Veränderungen wieder gelöscht. Allerdings geschieht das nicht zur Gänze. Mitunter bleiben einzelne epigenetische Marker erhalten, werden also von einer Generation an die nächste weitergegeben. Möglicherweise lassen sich so die oben dargestellten Tierexperimente erklären. Auch biologisch ergeben solche Prozesse einen Sinn, denn die Umwelt, die der Elterngeneration Anlass war, spezielle epigenetische Schutzmechanismen auszubilden, ist bei den Kindern mit hoher Wahrscheinlichkeit noch immer die gleiche. Nach wenigen Generationen sind jedoch die epigenetischen Anpassungen wieder verschwunden, ohne dass sich währenddessen die Basensequenz der DNA gewandelt hätte. So wie es beispielsweise bei einer Mutation geschieht. Nur solche Veränderungen schaffen in genetischer Hinsicht etwas wirklich Neues, an das die natürliche Selektion gegebenenfalls angreifen kann. Dagegen beeinflussen epigenetische Prozesse lediglich das vorhandene Erbmaterial bzw. die Aktivität bereits gebildeter Gene.

Obwohl Sporks Buch an manchen Stellen zur Kritik herausfordert, bietet es eine anregende Lektüre. Zumal der Autor eine Reihe von epigenetischen Erkenntnissen anführt, die inzwischen als empirisch belegt gelten. Und die uns in der Tat mahnen, gesünder zu leben, auch um des Wohlergehens vieler (noch ungeborener) Kinder willen. Denn soweit zumindest reicht der Arm der Epigenetik. Ob er noch weiter reicht oder ob gar eine stabile, mehrere Generationen umfassende Vererbung von epigenetischen Merkmalen stattfindet, darüber kann man beim gegenwärtigen Stand des Wissens nur mutmaßen.

Peter Spork: Gesundheit ist kein Zufall. Die neuesten Erkenntnisse der Epigenetik. DVA München, 416 S., 22,99 €

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