»Migrant ist eine soziale Kategorie«
Der senegalesische Ökonom Sylla und die Nordafrika-Expertin Gadha über die Afrikapolitik der G20
Die Bundesregierung setzt auf die G20-Afrika-Konferenz in Berlin große Erwartungen. Mit ihr sollen mehr private Investoren nach Afrika geholt werden. Ist der dort vertretene Ansatz einer Partnerschaft zwischen G20 und Afrika glaubwürdig?
Maha Ben Gadha: Nein. Bei solchen Konferenzen und denen aus ihnen resultierenden Abkommen geht es immer darum, bestimmte ökonomische Interessen abzusichern. Seit den 1990er Jahren gibt es eine Reihe von vertraglichen Regelungen, mit denen versucht wird, ein für die europäischen Staaten besseres Migrationsmanagement zu erwirken. Bilaterale Verträge zwischen europäischen und afrikanischen Herkunfts- und Transitländern spielen eine zentrale Rolle dabei. Die aktuellen Migrationswellen führen aber dazu, dass die G20 ihre Migrationspolitik neu kalibriert. Durch wirtschaftspolitische Maßnahmen wird versucht, gezielt Einfluss auf die Ströme der Migration zu nehmen. Zum Beispiel, indem sie Geldflüsse daran koppeln, dass die empfangenden Staaten ihnen bei der Migrationsabwehr helfen.
Kernstück der Initiative ist das Übereinkommen »Compact with Africa«. Worum geht es dabei?
Ndongo Samba Sylla: In der Initiative sollen afrikanische Staaten in Investitionspartnerschaften Hilfestellung dabei bekommen, die Rahmenbedingungen für Kapitalzuflüsse zu verbessern. Nach jetzigem Stand sind Côte d'Ivoire, Marokko, Ruanda, Senegal und Tunesien dabei. Die »Compact with Africa«-Initiative ist geboren aus der Erkenntnis, dass, wenn die ökonomische Lage in Afrika sich nicht verbessert, immer mehr Migranten nach Europa kommen werden. Real wird sie aber maximal privaten Investoren zusätzliche Anreize schaffen, ihr Geld in Afrika zu investieren.
Die Bundesregierung veranstaltet am 12. und 13. Juni in Berlin zur Präsentation eines modernen, differenzierten Afrikabildes für politische Entscheidungsträger und private Investoren die Konferenz »G20 Africa Partnership – Investing in a Common Future«. Aus diesem Anlass sprach für das »nd« Fabian Hillebrand mit Ndongo Samba Sylla, Entwicklungsökonom aus Senegal und Maha Ben Gadha, Programmmanagerin im Auslandsbüro Nordafrika der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Aber sind Investitionen und Entwicklungshilfe zwingend schlecht?
Ndongo Samba Sylla: Nein, aber aus meiner Perspektive fußen solche Initiativen auf einer falschen Vorstellung davon, was ökonomisch funktioniert in Afrika. Die Initiative setzt vor allem darauf, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen Investitionen möglich sind. Die gibt es aber längst. Das Problem ist vielmehr die Art der Investitionen. Diese funktionieren im Moment so, dass multinationale Konzerne in Afrika investieren und dabei hohe Gewinne einfahren, ohne dass in Afrika nennenswert Beschäftigung und Einkommen generiert wird. Investitionen müssten stattdessen in lokale Firmen fließen, ihnen erlauben zu wachsen und Arbeitsplätze zu schaffen. Stattdessen hinterlassen die Multis große Zerstörungen in unseren Ländern. Zerstörung, die wieder zu Migration führt.
Was meinen Sie damit?
Ndongo Samba Sylla: Lassen Sie mich ein konkretes Beispiel nennen. In meinem Heimatland Senegal gab es vor einiger Zeit noch eine große lokale Fischfangindustrie. Menschen konnten ein gutes Leben führen mit dem, was ihnen das Meer gab. Dann wurden die Märkte liberalisiert und Gesetzesvorschriften gelockert. Große Trawler aus Europa kamen. Die lokalen Fischer konnten nicht mit ihnen konkurrieren. Die Menschen haben dann ihre alten Fischerboote dazu benutzt, Menschen gegen Geld nach Europa zu bringen. Mit ihrer Wirtschaftspolitik hat die europäische Union diese Fischer in den Beruf des Schleppers gezwungen.
Maha Ben Gadha: Das Besondere an der aktuellen Welle von Migration ist, dass es diesmal die Verlierer der globalen Wirtschaftsformation sind, die revoltieren. Geschichtlich sind es eigentlich immer die industrialisierten Staaten gewesen, die einen Migrationssog ausgelöst haben. Die Migration vom Süden in den Norden wurde vom Norden initiiert. Historisch zum Beispiel vermittelt durch den Sklavenhandel. Oder in den 70ern, in denen westeuropäische Staaten Arbeitsmigranten anwarben. Das ist diesmal anders.
Was wollen Sie den Menschen mitgeben, die sich hier in Deutschland gegen die G20 organisieren?Ndongo Samba Sylla: Zuerst einmal möchte ich sagen, dass es mich glücklich stimmt, dass sich auch in Deutschland so viel bewegt. Für mich ist es das Wichtigste, dass wir das Konzept des Migranten dekonstruieren. Wenn jemand aus der Schweiz nach Deutschland kommt, würde ihn niemand als Migrant bezeichnen. Backpacker überall in der Welt sind keine Migranten. Migrant, das ist eine soziale Kategorie. Das muss uns klar werden.
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