Das Gerede vom Strick

Zur Debatte um die TV-Doku »Auserwählt und ausgegrenzt - der Hass auf Juden in Europa«

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 6 Min.

»Antisemitismus ist ein unzivilisiertes Herzstück europäischer Kultur.« Das ist ein Satz, der in Erinnerung meißelt, was oft verdrängt wird, und er erinnert an einen anderen Satz: »Der Antisemitismus ist ein eingeschliffenes Schema, ja, ein Ritual der Zivilisation«. Letzterer entstammt der »Dialektik der Aufklärung«, dem Hauptwerk der beiden deutschen Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer; ersterer fällt gleich zu Beginn der Filmdokumentation »Ausgewählt und ausgegrenzt - der Hass auf Juden in Europa«. Gedreht haben diesen Film Sophie Hafner und Joachim Schroeder. Es gibt da noch einen dritten Satz, der in diesem Zusammenhang wichtig ist, und er stammt ebenfalls von Adorno: »Im Hause des Henkers soll man nicht vom Strick reden, sonst hat man Ressentiment.«

Hafners und Schroeders Film war den Programmverantwortlichen bei Arte und WDR, den beiden Sendern, die die Dokumentation über Antisemitismus in Europa in Auftrag gaben, offenbar zu viel Gerede vom Strick. Arte verweigerte die Abnahme des Films, offiziell, weil sich Hafner und Schroeder nicht an Absprachen gehalten und in dem knapp 90 Minuten langen Film das Thema verfehlt hätten. Statt vom Hass gegen Juden in Europa handele die Doku über weite Strecken vom Nahost-Konflikt, lautet der Vorwurf.

In einer Stellungnahme betonen die beiden Autoren, gegenüber ihren Auftraggebern diese Absicht niemals verschwiegen zu haben. In dem Konzept, das die Arte-Programmkommission genehmigt habe, sei deutlich gemacht worden, dass der Film von einem antizionistisch geprägten Antisemitismus in Europa handeln werde und dass dieser »untrennbar mit dem Nahost-Konflikt verwoben« sei. Nach Auskunft der beiden Filmemacher hat Arte-Chefredakteur Marco Nassivera allerdings schon vor zwei Jahren zu Beginn der Produktion ihnen gegenüber angedeutet, dass es durch den Fokus auf den Nahost-Konflikt Probleme geben könne. Sie müssten Verständnis haben, »dies sei gerade für Arte in Frankreich ein sensibles Thema«, denn Arte Frankreich sei »eingezwängt zwischen islamischer und jüdischer Lobby«.

Der Film nimmt durchaus eine dezidiert pro-israelische Haltung ein. Er spekuliert, ob im Gaza-Streifen aus EU-Geldern Prachtbauten und Villen der Hamas-Führungsclique finanziert wurden. Das Film-Team ist dafür nach Gaza-Stadt gefahren, hat Hamas-kritische Studenten interviewt und einen Vertreter der UN-Hilfsorganisation UNRWA zum Verbleib von Hilfsgeldern befragt. Interviewt werden Palästinenser, die in israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten arbeiten und die sich ausdrücklich positiv zu ihrer Situation äußern. Gezeigt werden israelische Krankenhäuser, in denen Palästinenser operiert werden. Die Doku konterkariert damit das Bild, das auch hierzulande über das israelisch-palästinensische Verhältnis vorherrscht. Rund eine halbe Stunde nehmen diese Passagen im Film ein.

Der Einwand, der Film ergreife damit Partei für eine Seite im Nahost-Konflikt, darf aber nie und nimmer ein Argument gegen eine Ausstrahlung sein. Zumal auch diese knapp 30 Filmminuten ihre Bedeutung für das Thema haben. Der Konflikt zwischen Israel und Palästinensern wird nämlich auch auf europäischem Boden ausgetragen. Hier setzt sich zum Beispiel die Bewegung Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) für die internationale Isolierung israelischer Künstler und Intellektueller und für den Boykott von israelischen Waren ein, die in den besetzten Gebieten produziert wurden. Der Film zeigt Aktivisten, die in Frankreich Supermärkte stürmten und die Vernichtung von israelischen Lebensmitteln filmten. Solche Bilder, sagt ein Gesprächspartner von Hafner und Schroeder, stachelten zum Judenhass auf und lieferten arabischen Jugendlichen die moralische Rechtfertigung für Gewalt.

Die Doku legt nahe, dass mit diesem Ausbruch antijüdischer Gewalt vor allem Frankreich ein Problem hat. Und das nicht erst seit dem islamistischen Terror des IS. Schon vor über zehn Jahren - der IS war da in Europa noch gar nicht aktiv - wurde ein junger Jude in Paris entführt und ermordet. Die Täter wollten Geld erpressen und gingen irrtümlich davon aus, dass die Familie ihres Opfer reich sei. Das antisemitische Motiv hat in den französischen Medien aber nur eine untergeordnete Rolle gespielt.

Die Mehrheit der Gesellschaft tue sich schwer damit, antisemitisch motivierten Terror auch als solchen zu benennen, stellen die beiden Filmemacher fest. Wie blind sie gegenüber einem solchen Tatmotiv ist, zeigt auch ein Blick in die jüngere Geschichte. Am 13. November 2015 wurde Paris von Terroranschlägen erschüttert. Einer galt dem Klub Bataclan. 90 Menschen - meist jugendliche Besucher eines Rock-Konzertes - starben. Was der Öffentlichkeit kaum bekannt ist: Das Bataclan war schon seit 2008 Ziel antisemitischer Attacken, 2011 entging der Klub nur knapp einem Anschlag und kurz vor dem Attentat waren die ehemaligen jüdischen Besitzer, die im Bataclan mehrfach pro-israelische Solidaritätsabende veranstaltet hatten, nach Israel ausgewandert.

Man muss, wie gesagt, nicht die Schärfe, nicht die Zuspitzung teilen, die Hafner und Schroeder in ihren Film gelegt haben. Direkt nach dem eingangs zitierten Satz über den Antisemitismus als Herzstück europäischer Kultur folgt eine Aneinanderreihung von Namen: Voltaire, Hegel, Molière, Kant, Heidegger, Shakespeare hätten judenfeindliche Klischees und Vorurteile bedient, selbst Goethe sei gegen die Ehe von Christen und Juden gewesen. Man könnte auf diese Liste noch andere setzen, die in dieser Aufzählung nicht vorkommen: Marx und Engels zum Beispiel. Zwischen Goethe und jenen arabischen Jugendlichen, die in Deutschland öffentlich »Tod den Juden« skandieren, bestehen jedoch Unterschiede.

Und es gibt Grau- und Zwischentöne. Zionisten seien eine »Geldmafia, die ihr Geld nicht mit dem Wohl der Menschen verdient, sondern mit der Zerstörung der Menschheit«, sagt jemand am Rande einer Wutbürger-Demonstration in Berlin ins Mikrofon. »Hinter Amerika steht eine andere Macht.« Welche das ist, sagt er nicht. Die deutsche Linguistin Monika Schwarz-Friesel erklärt es uns an seiner statt: Nicht Juden werden als Übel der Welt diffamiert, sondern Israel. Nicht Juden beherrschen die Welt, sondern Rothschild, Goldman-Sachs, die Bilderberger. »Sie sagen nicht Juden, sondern ›einflussreiche Kreise‹«, so Schwarz-Friesel.

Dass dieses Denken nicht auf den politisch rechten Rand beschränkt ist, zeigt die Doku auch. Ein Langhaariger im Retro-Öko-Look spricht am Rande einer Demo in Berlin offen ins Mikrofon, dass man »schon blöde sein muss«, um die »amerikanisch-zionistische Weltverschwörung« nicht zu erkennen. Weltbank, IWF, die UNO und die internationale Atomenergieorganisation IAEA seien unter der Kontrolle einer amerikanischen Elite, die maßgeblich von Zionisten gelenkt werde. Und die Protokolle der Weisen von Zion, jenes antisemitische Pamphlet, das der zaristische Geheimdienst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Umlauf brachte und das gefälschte Darstellungen über einen angeblichen Plan des »Weltjudentums« enthält, die »Weltherrschaft« zu übernehmen, sei ein »historisches Dokument«. Selbst wenn es eine Fälschung sein sollte, dann »hat sich da jemand kluge Gedanken gemacht« und die »Wahrheit« antizipiert.

Arte weigert sich weiterhin, den Film zu zeigen, denn hierdurch würde er »nachträglich legitimiert«. Der WDR versteckt sich hinter der Argumentation des deutsch-französischen Gemeinschaftssenders. Damit haben die beiden Sender sowohl dem Thema als auch der Medienhygiene einen Bärendienst erwiesen. Montagnacht, um Punkt Mitternacht, stellte bild.de den kompletten Film für 24 Stunden online. Juristisch ist das problematisch, denn die Erstausstrahlungsrechte liegen bei Arte. Von den Filmemachern habe bild.de den Link zum Film nicht, erklärte Sophie Hafner auf Nachfrage. Arte nannte das Verhalten von bild.de zwar »befremdlich«, erklärte aber, dass es nicht gegen die Veröffentlichung vorgehen werde, damit »die Öffentlichkeit sich ein eigenes Urteil über den Film bilden kann«.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.