Was ist das, Zivilisation?
Peter Handkes »Die Stunde da wir nichts voneinander wussten« im Hans-Otto-Theater Potsdam
Die Bühne dreht wie der Mühlstein. Alles im Wandel. Es geht an die Substanz. Keine Sprache, kein Sprechen mehr. Nur noch Schreckrufe, geräuschhafte Zuckungen, Pfiffe, ein Summen und Singen. Ungeahnte Klänge winden sich zuhauf. Durchgängige Beschallung der Vorgänge, wie im wirklichen Leben. Malte Preuß hat hier Fabelhaftes geleistet. Montagen mit Material aus dem Fundus der höheren wie der Alltagsmusik tönen kreuz und quer, als würden die Leute Radiosender durchzappen.
Die Bühne stattete Wolfgang Menardi fantasievoll aus. In der Mitte ragt der Brunnen. Oben thront die schwarze Figur, »Held« sei sie genannt, sie ist maskiert. Gefährlich die Außenhaut. Gummi. Poseidon als die Sehnen spannender Diskuswerfer. Arno Breker hat dergleichen gemacht. Unten die Menge. Am Rand Ständer mit Dutzenden von Kostümen, schwarzen, bunten, seidenen wie undurchsichtigen, geschlechtsspezifischen wie -neutralen, exaltierten wie gewöhnlichen. Kugelkostüme darunter, Abendkleider, fürstliche Garderobe, armselige Plünnen. Die herzustellen und klassenspezifisch zu funktionalisieren - Großtat der Amit Epstein aus Israel.
Was ist das, Zivilisation? Woher kommt dies »Wunder« menschlichen Zusammenlebens? Wie ist sie gelaufen über die Jahrhunderte weg? Peter Handke stellt seit jeher die Frage, wie viel falsch gelaufen ist in diesem Prozess, und entspricht damit einem weitreichenden Bedürfnis der Menschen. Uraufgeführt wurde »Die Stunde da wir nichts voneinander wussten« 1992, als die alte kapitalistisch geprägte Zivilisation die idealisch hinaufstrebende, im Verfall begriffene Zivilisation auffraß wie der Fuchs die Amsel.
Handkes Stück beschreibt den Umbruch. Buchstäblich. Bricht etwas um, geschieht es bruchstückhaft. Die Form ist offen. Was jetzt beschäftigt, kann jederzeit reinrutschen. Alexander Nerlich - sozial genauer als Bob Wilson, der seine Stoffe ähnlich inszeniert - experimentiert mit diesem offenen Angebot. Zwölf unerhört agile Mimen und Tänzer spannt er ein und fädelt eine Vielheit jäher Atmosphären auf. Paralyse ist die Schnur, der entlang die Kreatur sich aufzurichten sucht und dabei ins Leere geht.
Was suchen die Leute vor dem Brunnen, oben die eiserne Maske, der »Held«? Gehorchen sie diesem, unterwerfen sich? Über Kostüm und Maske, vielerlei Posen und Tanzeinlagen (Choreografie: Anja Kozik) erschließen sich widerstrebende soziale Beziehungen. Das eigensinnige, bewusst handelnde Individuum schaltet von vornherein aus. Die schweigende Vereinzelung ist der rote Faden, eingewoben irrster Radau. Der Einzelne strauchelt. Er geht nicht bedächtig, er ist Getriebener, er rennt wider sich selbst und die anderen. Auf dieser Bühne bewegt sich niemand wie in der wirklichen Welt, weswegen diese umso wirklicher erscheint. Das protokollieren Hunderte von Situationen.
Jedes Kostüm, das im Schnellgang den je Einzelnen gereicht wird, schärft den Blick, anstatt ihn abzulenken. Mann im Kleid, Frau in Hose und Jacke säubern mit Plastiktüte in der Hand die Straße. »Aha, aha« entfährt es der Eleganten, während der abgerissene Skateboarder über die Bühne segelt. Der »Held« in Schwarz ist nicht starr, sondern wandelbar. Er positioniert sich, stößt Laute aus, stampft mit den Stiefeln, trampelt rhythmisch wie die Stepdancer. Sein Tun klingt bedrohlich.
Frau, allein am Brunnen, sie muss mal, läuft, plötzlich dröhnen Düsentriebgeräusche, sie duckt sich. Uniformierte drängen sich zu einem Menschenbündel, dazu laute Rockmusik. Die Rothaarige tanzt eine Ballettsolonummer, ihr wird zugesetzt, die gewaltbereite Gruppe schleppt sie rüde ab. Es regnet. Schirme spannen auf. Sie avancieren zu Schlagstöcken. Der schwarze »Held« steigt hinab, schleicht umher, spukt, gefällt sich in Tanzgebärden. Bei zwei Herren verhaken sich die Krawatten ineinander, sie ringen miteinander, als wollten sie sich umbringen.
Das Klangumfeld verändert sich permanent. Irgendwann kreisen Streichklänge wie beim Plattensprung von immer demselben Punkt aus. Es geht Schlag auf Schlag. Auftritt der Neoliberalen mit Laptop vor dem Flüchtling mit Schwimmweste. Die Pilotencrew dackelt über die Bühne. Wartezeit im Airport. Ein Hahn kräht, Babygeschrei, Pferde wiehern. Zeichen zum Abflug. Da, der Koffer! Die eiserne Maske mischt sich unter die Fluggäste. Terrorakt? Kon-trollszene: Der eine Mann muss sich nackt ausziehen, weil es immer piept bei ihm. Darauf ziehen sie ihm aus seinem Körper allerlei Zeug, zuletzt einen Vogel. Der beginnt zu singen. Komisch. Kein Leben ohne Zauberei.
Der Clown spaziert mit Laptop in der Hand. Pfiff. Barocke Szenerie, genregetreu untermalt. Zwei Nackte ziehen wie vorgespannte Gäule die Kutsche der Gräfin mit roter Perücke. Elegant die Positur der Dame auf Rollschuhen. Der Mann auf dem Fahrrad mimt den verzweifelten Dichterhelden, der, auf der Flucht, zusieht, dass er rasch fortkommt. Auftritt der Schar in Weiß gehüllter Götter vor schaukelndem Kreis aus Neonröhren. Tanz der bunten Nymphen. Der Mühlstein dreht, unerbittlich. Vogelgezwitscher. Eine kirre Frau fotografiert dauernd.
Der Schluss zeigt Posen in Zeitlupe. Die Leute, lädiert, kommen mit Lichtern aus ihren Löchern unter Glockenschlägen und umlagern den Brunnen. Der »Held« in Befehlspose. Der Veitstanz hebt schreiend an. Die Frau in Schwarz wandelt erst wirr, dann hockt sie vorn wie eine Frierende, darüber der aufgespannte gelbe Ballon. Ein Mond zum Gruße? Die Restlichen schleichen mit Taucher- oder VR-Brillen orientierungslos umher und stoßen Pfiffe aus. Unordnung befiel die Zeit über die Unschuldigen und krümmte ihre Seelen.
Dies nur Ausschnitte der 85-minütigen spannenden, sinnreichen Komposition. Meisterhaft, was das Hans-Otto-Theater hier in Koproduktion mit dem Kleist-Forum Frankfurt (Oder) hervorgebracht hat.
Nächste Vorstellung am 15. Juli, Gastspiel in Frankfurt (Oder) am 17. Juni
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